# taz.de -- Lessing-Tage in Hamburg: Brücken über Abgründe | |
> Die Lessingtage am Thalia Theater fragen: Was ist aus der Idee der | |
> Toleranz geworden? | |
Bild: Bildgewaltiges Spektakel über Krieg und Kolonialismus: "Reise ans Ende d… | |
HAMBURG taz | Es ist die pointierteste Formulierung des aufklärerischen | |
Ideals unbedingter Toleranz: Für die Bestimmung des Werts eines Menschen, | |
davon war Gotthold Ephraim Lessing überzeugt, ist die Wahrheit, in deren | |
Besitz er sich wähnt, ganz unerheblich. Worauf es ankomme, sei einzig die | |
aufrichtige Mühe, die er aufgebracht habe, hinter sie zu kommen. Denn dass | |
man sich dabei nun mal beständig irrt: schlicht menschlich. | |
Den anderen anzuerkennen, das könne also keine Frage theologischer oder | |
wissenschaftlicher Inhalte sein, überhaupt: keine des Konsenses. Sondern | |
eine der Ethik und der Auseinandersetzung über alle Grenzen hinweg: „Wir | |
müssen, müssen Freunde sein“, lautet die Formel von Lessings weisem Nathan. | |
Zum fünften Mal nehmen die Lessingtage des Hamburger Thalia Theaters nun | |
die Forderung nach unbedingter Toleranz zum Ausgangspunkt, um mit | |
Gastspielen und Eigenproduktionen, Diskussionen, Vorträgen und | |
soziokulturellen Projekten zwei Wochen lang zu fragen, wie eine | |
kosmopolitische Kultur am Beginn des 21. Jahrhunderts aussehen kann. | |
## Postkolonialer Schwerpunkt | |
Den Schwerpunkt setzt das Festival dabei diesmal auf postkoloniale | |
Gesellschaften insbesondere Afrikas, und den europäischen Blick darauf. | |
Dass die bis heute durch den Kolonialismus geprägte Verbindung beider | |
Kontinente mit der Debatte um die europäische Migrationspolitik eine so | |
brisante Aktualität bekommen hat – wie sie mit der Ankunft der | |
Lampedusa-Gruppe und den Kämpfen um ihr Bleiberecht in Hamburg derzeit auch | |
ganz konkret spürbar wird: Das konnten Joachim Lux und seine Dramaturgin | |
Sandra Küpper zwar nicht ahnen, nah lag der Fokus aber dennoch. Kaum ein | |
Thema ist in den letzten Jahren auf europäischen Bühnen von Avignon bis | |
Bremen so präsent gewesen wie das koloniale Erbe des Kontinents und die | |
Auseinandersetzung mit Afrika. | |
Exemplarisch steht dafür schon die Eröffnung des diesjährigen Festivals: | |
Zum ersten Mal seit 13 Jahren ist in Hamburg wieder Castorf’sches | |
Überforderungstheater zu sehen. „Reise ans Ende der Nacht“ ist Frank | |
Castorfs knapp fünfstündige Interpretation des gleichnamigen Romans des | |
Franzosen Louis-Ferdinand Céline für das Münchner Residenztheater. | |
Im Roman schickt der glühende Antisemit, Rassist und Faschismus-Anhänger | |
Céline sein Alter Ego Ferdinand Bardamu 1932 als opportunistischen, | |
zugleich aber auch an den sozialen Ungleichheiten der Zeit verzweifelnden | |
Beobachter auf eine Odyssee durch die Wirren und Finsternisse der modernen | |
Welt. | |
Von den Schlachtfeldern des Ersten Weltkriegs, den er als apokalyptischen | |
Kreuzzug zur Vernichtung der „lästigen Armen“ erlebt, flüchtet Bardamu si… | |
über den kolonialen Kongo und das Nachkriegs-Amerika bis ins psychiatrische | |
Asyl am Stadtrand von Paris – wohlgemerkt als dessen kommissarischer | |
Leiter. | |
Ein zynisch brandschatzender, auch in Sprache und Form rücksichtsloser | |
Roman, aus dem Castorf nicht minder rücksichtslos ein | |
bildgewaltig-brüllendes postdramatisches Spektakel über Kolonialismus, | |
Kapitalismus und Krieg destilliert hat. Wer da in München am Ende noch auf | |
seinem Stuhl saß – bei weitem nicht alle – hat frenetisch gejubelt. | |
## Bollywood-Musical | |
Auch das Bollywood-Musical „Gottes kleiner Krieger“ des Regie-Duos Jarg | |
Pataki und Viola Hasselberg für das Theater Freiburg nach einem Roman des | |
indischen Autors Kiran Nagarkar beleuchtet die düstere Kehrseite der | |
Toleranz im Gewand des fundamentalistischen Terrors. | |
Nagarkar erzählt die Geschichte eines ungleichen Brüderpaars: Der | |
hypochondrische Amanat, der sich als Bollywood-Drehbuchautor erfolglos | |
durchs Leben schlägt, verkörpert den intellektuellen Skeptiker, der auch | |
den Unbeständigkeiten und Irrtümern der anderen stets Verständnis | |
entgegenbringt. Die Rolle des Anti-Lessing spielt sein Bruder Zia, ein | |
Mathegenie, das sich für auserwählt hält, die islamische Welt zu vereinigen | |
und schließlich mit Aktienspekulationen radikale religiöse Organisationen | |
finanziert. | |
Zweifel an seiner Auserwähltheit hegt er keine, welchen Glauben er dabei | |
vertritt, ist dem Spross einer liberalen muslimischen Familie nicht so | |
wichtig: Auf seinem Weg von Cambridge über die Kontinente wechselt er | |
dreimal das Bekenntnis, versucht, Salman Rushdie zu töten, landet im | |
afghanischen Terroristencamp, wird schließlich Trappistenmönch und | |
christlich-fundamentalistischer Abtreibungsgegner. | |
## Wendy und Peter Pan | |
Ebenfalls ausdrücklich einen „Anti-Lessing“ präsentiert die spanische | |
Regisseurin und Performerin Angèlica Liddell mit ihrem Auftragsstück für | |
die Wiener Festwochen im vergangenen Jahr: „Der ganze Himmel über der Erde“ | |
macht das Wendy-Syndrom zum Thema, das in der Psychologie als Gegenstück | |
zum Peter-Pan-Syndrom dient und für Frauen steht, die Beziehungen mit | |
Männern führen, die sich weigern, erwachsen zu werden: eine unheilvolle | |
Melange aus Abhängigkeit und dem Drang zur Bemutterung des Partners. | |
Auch im Zentrum von Liddells zweieinhalbstündiger Performance, über weite | |
Strecken ein schmerzender Monolog, steht die Entstehung von Gewalt und die | |
gewaltvolle Ablehnung der Vielfalt, ausgehend vom Leiden der | |
sehnsuchtsvollen Frau, die sich für den Geliebten aufgibt. | |
Auch hier aber ist die Kehrseite der Wendy eine Zynikerin voller Ekel vor | |
sich und anderen, die sich aus der Abhängigkeit zu winden versucht. | |
Verstörend dabei: In Liddells Interpretation befindet sich Wendys Neverland | |
schließlich auch auf der norwegischen Insel Utøya, wo 2011 der | |
rechtsextremistische Attentäter und Massenmörder Anders Behring Breivik 69 | |
Menschen, darunter viele Jugendliche ermordet hat. | |
Aber es gibt auch hoffnungsvolle Blicke, die Lessings Formel vom | |
Freunde-sein-Müssen beim Wort nehmen. Zum ersten Mal ist auch Tanz Teil des | |
Programms, „NYA“ des in Frankreich geborenen algerischen Choreografen Abou | |
Lagraa und seiner Compagnie La Baraka ist eines der beiden Stücke und eine | |
Arbeit, die gar exemplarisch für die Chancen des Brückenbauens zwischen | |
Menschen und Kulturen steht. | |
Grundlage ist ein auf drei Jahre angelegtes Projekt, das Lagraa gemeinsam | |
mit der algerischen Kulturministerin Khalida Toumi ins Leben gerufen hat. | |
Gemeinsam mit 13 jungen Straßentänzern führt er auf der Suche nach einer | |
eigenen Position inmitten unterschiedlicher musikalischer Traditionen | |
Tanzformen des Capoeira, des Hip-Hop und des Breakdance zusammen und | |
entwickelt zu Ravels „Bolero“ und sakralen afrikanischen Gesängen eine | |
eigene Tanzsprache, die auf dem Überwinden von Grenzen aufbaut. | |
Sa, 25. 1. bis So, 9. 2., Hamburg, Thalia Theater, [1][thalia-theater.de] | |
24 Jan 2014 | |
## LINKS | |
[1] http://www.thalia-theater.de | |
## AUTOREN | |
Robert Matthies | |
## TAGS | |
Musical | |
Netzkultur | |
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