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# taz.de -- Razzia bei Ärztin der Leugner-Szene: Spontandemo mit Wutrede
> Die Polizei hat die Praxis der Impfgegnerin Carola Javid-Kistel in
> Duderstadt durchsucht. Sie soll falsche Atteste ausgestellt haben.
Bild: Mit dabei am Mikro: Carola Javid-Kistel bei Protesten gegen Coronamaßnah…
Duderstadt taz | „Schämt euch! Schämt euch!“, skandiert eine Menschenmenge
am Mittwochmittag im niedersächsischen Duderstadt, als
Kriminalbeamt*innen einige Kartons aus einem Einfamilienhaus tragen.
So ist es auf Aufnahmen zu sehen, die Coronaleugner*innen nach der
Praxisdurchsuchung geteilt haben, die Stein des Anstoßes für den
Spontanprotest war. Die szenebekannte Ärztin Carola Javid-Kistel hat in den
Räumen ihre Naturheilpraxis – und sie hat ihre Unterstützer*innen
mobilisiert. Die kamen mehrheitlich ohne Masken.
Unmittelbar mit dem Beginn des Polizeieinsatzes schickte die 54-jährige
Impfgegnerin und Kritikerin der Maßnahmen zur Pandemiebekämpfung
schluchzend einen Hilferuf über den Messengerdienst Telegram: „Die stehen
bei mir vor der Tür und wollen jetzt in die Praxis rein.“ Sie flehte ihre
Follower*innen an, eine „Spontandemo“ zu machen – mit Erfolg.
Mindestens 50 Menschen reisten aus der Umgebung an. Javid-Kistel hielt vor
Ort eine Wutrede, in der sie die Ermittlungen gegen sich als „Hexenjagd“
bezeichnete und mit der NS-Diktatur verglich.
Bereits im September hatte eine Mitstreiterin von Javid-Kistel bei einer
Demonstration in Hannover davor gewarnt, die Atteste weiter zu verwenden –
um sie und die Menschen, die sie benutzen, vor Ermittlungen zu schützen.
„Entweder es wird gegen euch ermittelt oder ihr lasst es in der
Hosentasche“, hieß es über die Lautsprecheranlage.
Gegen Javid-Kistel liegt der Verdacht auf Urkundenfälschung in mindestens
16 Fällen vor. Die Ärztin soll Maskenbefreiungs-Atteste ohne medizinische
Notwendigkeit zur Verfügung gestellt haben. Aufgefallen sind die gelben
Scheine bei bundesweiten Protesten gegen die Coronavirus-Schutzmaßnahmen.
In der Coronaleugner*innen-Szene gelten die Masken als Zeichen einer
Diktatur. Die Schutzwirkung vor dem Coronavirus wird abgestritten.
## Berufsrechtliches Verfahren der Ärztekammer
Die Ermittler*innen suchten am Mittwoch in der Praxis Akten und
Arztrechnungen. Andreas Guick, Pressesprecher der Staatsanwaltschaft
Göttingen, sagte auf Anfrage der taz, Ziel sei es herauszufinden, ob die
Patient*innen tatsächlich vorstellig wurden – oder die Ärztin die
Atteste einfach so ausgestellt hatte. Sollten sich die Anschuldigungen
erhärten, könnte Javid-Kistel eine empfindliche Geld- oder sogar eine
Freiheitsstrafe von bis zu zwei Jahren, drohen.
Die niedersächsische Ärztekammer steht mit der Staatsanwaltschaft in
Austausch und prüft zudem ein berufsrechtliches Verfahren gegen
Javid-Kistel. „Eine Arztpraxis ist kein Ort für politische Agitation“, sagt
Thomas Spicker, Pressesprecher der Ärztekammer. Er warnt vor
Gefälligkeitsattesten und hat von einigen weiteren Fällen gehört: Bei
43.000 Mitgliedern in Niedersachsen sei es bisher zu 26 Beschwerden
gekommen, die dem Fall aus Duderstadt ähnelten.
Javid-Kistel ist in den vergangenen Monaten zu einer prominenten Figur der
Szene geworden. Bereits Ende April inszenierte sie sich in Hannover bei
ersten Kundgebungen und übernahm aufgrund ihrer vermeintlichen Expertise
schnell die Organisation diverser Veranstaltungen – sie ist nicht nur
Ärztin, sondern auch Heilpraktikerin. Seit Jahren demonstriert sie gegen
einen vermeintlichen Impfzwang und engagiert sich beim bundesweit
agierenden Netzwerk Impfentscheid.
Javid-Kistel zählt auch zum Orgateam von „Walk to Freedom“, das im
vergangenen Jahr zwölf Demonstrationen in Hannover organisierte. Ans
Mikrofon traten dort Menschen, die neben ihrer Kritik an den
Schutzmaßnahmen vor dem Coronavirus auch antisemitische Aussagen getätigt
sowie Reichsbürger-Inhalte und Verschwörungsmythen verbreitet haben.
Im vergangenen Jahr war zu beobachten, wie die Ärztin und Großmutter sich
offenbar radikalisierte. Immer wieder verglich sie die Situation mit den
1930er-Jahren. In einer Sprachnachricht an ihre Follower*innen setzt
sie die aktuellen Ereignisse mit der Verfolgung von Juden*Jüdinnen
gleich. Tausendfach werden ihre Nachrichten in verschiedenen
Telegram-Channeln geteilt.
Vor ihrer Praxis äußerte sich Javid-Kistel gegenüber der taz zu den
Vorwürfen: Sie stelle keine falschen Atteste aus. Alles sei nach bestem
Wissen und Gewissen vonstatten gegangen, „die meisten“ Patient*innen
seien vor Ort gewesen. Auf Nachfrage zu diesem entscheidenden Punkt
verbesserte sich die Ärztin: „Alle Leute“ seien in ihrer Praxis zur
Untersuchung gewesen.
Ihren Unterstützer*innen sendete sie abends eine weitere
Sprachnachricht: Zu gewinnen sei das alles nur noch mit Mut und ohne Angst.
„Nicht vor der Polizei, nicht vor irgendwelchen Richtern oder
Staatsanwälten.“
22 Jan 2021
## AUTOREN
Michael Trammer
David Speier
## TAGS
Schwerpunkt Coronavirus
Niedersachsen
Ärztekammer
Verschwörungsmythen und Corona
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