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# taz.de -- Langeweile in Coronazeiten: Ich fühle nichts mehr
> Während der Coronapandemie gibt es nur wenig zu sehen und zu erleben. Für
> Menschen in der Kreativbranche ist das schwierig. Soziale Plattformen
> helfen auch nicht.
Bild: Wenn nichts mehr passiert, liefert auch das Smartphone keine Abwechslung …
Ich erlebe nichts. Seit fast einem Jahr. Ich weiß, vielen geht es so und
das ist [1][neben Existenzängsten] und gesundheitlichen Auswirkungen in
dieser Pandemie ein Luxusproblem. Als meine Freundin vor Monaten meinte,
der Coronatest durch die Nase würde sich anfühlen, als würde jemand dein
Gehirn kitzeln, bekam ich leuchtende Augen: Ja, ich will endlich wieder ein
Kribbeln in meinem Hirn!
Aber mittlerweile haben sogar Nasenabstriche ihren Kick verloren, ich fühle
nichts mehr. Ich lasse mich trotzdem regelmäßig testen. Wenn mich Leute für
Online-Veranstaltungen anfragen und um Terminvorschläge bitten und ich
sage, dass ich jeden Feierabend kann, weil ich sonst nichts vorhabe, tun
sie so, als hätte ich einen Witz gemacht. Aber wo ist die Pointe?
[2][In der Kreativbranche zu arbeiten und nichts zu erleben], ist
schwierig. Es ist nicht so, als hätte ich vor der Pandemie so unglaublich
viel erlebt, aber ich habe oft Menschen getroffen, die viel erleben. Die
erleben jetzt aber auch nichts mehr oder erzählen das zumindest nicht, weil
etwas erleben ist im Lockdown nicht erlaubt.
Ich verbringe also noch mehr Zeit als sonst auf den sozialen Plattformen,
in der Hoffnung, zumindest fremden Menschen zuschauen zu können, wie sie
was erleben. Ich schließe nach Feierabend meine beruflichen Tabs am Laptop,
nur um einen Meter weiter auf der Couch persönliche Tabs zu öffnen. Jetzt
hat mir doch tatsächlich eine Youtuberin auch diese Freude genommen – sie
wolle nicht zeigen, was sie in Dubai so alles macht, damit wir in Europa
nicht neidisch werden. Irgendwie ziehen verdächtig viele Influencer:innen
nach Dubai, zuerst dachte ich aufgrund der niedrigen Steuern, aber es kann
doch fast nur daran liegen, dass Dubai nicht im Lockdown ist.
Worüber schreibe ich Kolumnen, wenn ich nichts erlebe und 3.000 Zeichen
nicht für die großen gesellschaftlichen Themen reichen? Denen widme ich
mich jetzt sowieso zu Hause: Ich höre im Homeoffice meinem Mitbewohner bei
seinen Team-Meetings zu und führe mit ihm daraufhin ungefragt
Feedbackgespräche, in denen ich ihm erkläre, wo er seine Kolleginnen fast
gemansplaint hat und wie er diskriminierungsfreie Sprache verwenden soll.
Zumindest ertragen wir noch die Telefonstimme des anderen. Manche
Wohngemeinschaften haben sich deswegen während der Pandemie wohl schon
aufgelöst. Er fragt mich trotzdem immer häufiger, ob ich während seiner
Team-Calls nicht spazieren gehen möchte.
[3][„Spazierengehen“ schien für überhaupt alle außer mir die Antwort] auf
den Lockdown. Für mich persönlich komplett überbewertet. Ich mache es
trotzdem täglich, ist ja nicht so, als hätte ich etwas anderes zu tun –
kreativer bin ich dadurch nicht geworden.
Goethe soll in sein Tagebuch geschrieben haben „Gar nichts erlebt. Auch
schön.“ Mittlerweile weiß man, dass das Zitat fiktiv ist – ganz ehrlich,
das hätte ich euch auch so sagen können.
18 Jan 2021
## LINKS
[1] /Psychische-Belastung-in-der-Corona-Krise/!5692717
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[3] /Ganz-Berlin-ist-am-Spazieren/!5735731
## AUTOREN
Melisa Erkurt
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