# taz.de -- Nach dem Terroranschlag in Wien: Distanzieren statt Trauern | |
> Unsere Autorin hat als Muslima Angst, sich nach dem Terroranschlag zu | |
> äußern. Anstatt trauern zu dürfen wie alle anderen, muss sie sich | |
> abgrenzen. | |
Bild: „Ich distanziere mich eine Million Mal, wenn ich dafür einfach nur um … | |
Seit dem [1][Terroranschlag in meiner Heimatstadt Wien] weiß ich nicht | |
mehr, was ich sagen darf. Was ich als Muslima schreiben darf, ohne dass mir | |
Verharmlosung unterstellt wird. Ohne dass ich Angst habe, jemand könnte aus | |
meinen Worten herauslesen, ich würde Ausreden für eine derartige Tat | |
suchen. | |
Die ersten Stunden und Tage nach dem Attentat twitterten sich meine | |
Kolleg:innen die Finger wund, alle hatten eine Meinung dazu, wie sich ein | |
in Wien geborener Jugendlicher radikalisieren kann, was schief gelaufen | |
ist. Im Gegensatz zu ihnen bin ich Pädagogin, hab in Schulen gearbeitet, | |
ich hätte viel zu sagen – aber ich traue mich zuerst nicht, das ist nicht | |
mein Platz, das spüre ich irgendwie. | |
Schon gar nicht traue ich mich, meine Angst vor der Zunahme an | |
[2][Übergriffen auf Muslim:innen] und einer antimuslimischen Politik zu | |
artikulieren. Es ist noch zu früh, es könnte so gedeutet werden, als würde | |
ich die Aufmerksamkeit weg von dem Attentat lenken. Ich sehe schon die | |
„Opferrolle“-Kommentare. | |
Als klar wird, dass eines der Opfer selbst ein junger Mann mit muslimischem | |
Background ist, posten das einige Muslim:innen fast erleichtert als Beweis | |
dafür, dass auch Muslim:innen sich nach dieser Nacht als Opfer fühlen | |
dürfen, Angst haben dürfen. Muslimische Jugendliche wiederholen in der | |
Schule immer wieder den Satz: „Wenn jemand einen Menschen tötet, ist es, | |
als hätte er die ganze Menschheit getötet“ – ein Koranvers, mit dem sie | |
allen klarmachen wollen, dass Muslim:innen keine Terrorist:innen sind. | |
„Der Täter war kein Muslim, er war ein Terrorist“, erklärt eine Schülerin | |
ihrer Lehrerin und in meinem Kopf sehe ich schon die Gedanken der anderen: | |
„Sie leugnet damit die Probleme innerhalb des Islams. [3][Distanziert euch | |
doch einfach von dieser Tat].“ | |
Ich distanziere mich eine Million Mal, wenn ich dafür einfach nur genauso | |
um mein Wien trauern darf wie alle nichtmuslimischen Österreicher:innen. | |
Wenn ich dafür meine Ängste und Gedanken genauso ungefiltert ausdrücken | |
darf wie alle anderen, ohne dass mir irgendjemand etwas falsch auslegt. | |
[4][Ein Journalist schreibt bei Twitter], er wundere sich, warum Menschen | |
aus Bosnien nicht alarmierter seien, was fundamentalistische Strömungen | |
angehe. Sie würden das aus ihrer Heimat kennen, wo der eher tolerante | |
bosnische Islam zunehmend unter Druck von Fundis gerate. Ich bin ein Mensch | |
aus Bosnien. | |
Ich bin alarmiert. Aber was kann ich mehr tun als er? Für Dschihadisten bin | |
ich eine Ungläubige. Der Täter hätte mich genauso erschossen, wäre ich vor | |
Ort gewesen. Er hätte auch meine kopftuchtragenden Freundinnen und | |
Schülerinnen erschossen, die jetzt von Wildfremden auf der Straße als | |
Terroristinnen beschimpft werden. Wir haben keine Zeit zu trauern, wir | |
müssen uns rechtfertigen, wir müssen uns abgrenzen, wir müssen beweisen, | |
dass wir keine Terroristen unterstützen. Das weiß schon jedes muslimische | |
Kind. | |
15 Nov 2020 | |
## LINKS | |
[1] /Terroranschlag-in-Oesterreich/!5722512 | |
[2] /Antimuslimischer-Rassismus/!5666322 | |
[3] /IS-und-Islam/!5254445 | |
[4] https://twitter.com/neuholder/status/1326503790749560832?s=20 | |
## AUTOREN | |
Melisa Erkurt | |
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