# taz.de -- Fernweh in Coronakrise: Es nagt und ruft | |
> Der Wunsch auf Reisen zu gehen, kann in diesen Coronazeiten unerträglich | |
> werden. Was tun, wenn das Innere unaufhörlich schreit: Ich muss gehen. | |
Bild: Vielerorts stehen Reisemobile und Vans erst einmal still | |
Es gibt eine gute Stelle in einem Piratenroman von John Steinbeck (ja, er | |
hat wirklich mal einen geschrieben: „Eine Handvoll Gold“), wo der | |
zukünftige Freibeuter Henry Morgan im tristen Wales davon träumt, in die | |
Karibik zu segeln. Ein ehemaliger Knecht der Familie ist gerade von dort | |
zurückgekehrt, reich, elend und krank, und sagt doch: „Ich muss zurück an | |
den verdammten Ort.“ Und Henry weiß, dass er auch dorthin gehen muss. | |
„Denn es scheint, als wäre mein Körper in zwei Hälften geschnitten und nur | |
eine davon hier. Der andere Teil ist jenseits des Meeres und ruft und ruft | |
mich, zu kommen und ein Ganzes zu werden.“ | |
Kaum eine Zeile beschreibt so gut [1][das Reisen,] wenn man es ernst damit | |
meint. Das Gefühl, nicht bleiben zu können, weil ein Teil der Seele in der | |
Welt lebt. Das Gehirn oder Herz oder was auch immer ist drüben, im Gebirge | |
und an Stränden, in Dörfern und an tiefblauen Seen, in der Wüste und unterm | |
Sternenhimmel, bei fremden Sprachen und Menschen, in dreckigen Städten und | |
traurigen Käffern. In der Welt. Die Reise ist kein Urlaub, sondern etwas | |
Existenzielles. | |
Es nagt und ruft, irgendwann schreit es. Ich muss gehen, um ganz zu werden. | |
Das ist ein Satz, den Menschen, die ihr Leben an einem Ort verbracht haben | |
oder im Alltag vor sich hin leben, nie verstehen. Und diese Sehnsucht ist | |
hart in einer Pandemie. | |
Ich bin derzeit seit Monaten in Köln, der Stadt, wo ich aufgewachsen bin | |
und nie wieder Monate verbringen wollte. Der ausgebaute Lkw, in den wir | |
Anfang des Jahres gezogen sind, braucht Reparaturen, für die jeweils | |
unterschiedliche Werkstätten nötig sind. Es zieht sich also. Wir haben den | |
Sommer notgedrungen [2][coronamäßig] in Frankreich verbracht; es waren | |
schöne Monate, aber nicht die ganz große Magie des Fremden, das Gewitter an | |
Erkenntnissen, Gefühlen, Reizen einer völlig neuen Welt. Eher eine | |
pragmatische Wahl, Frankreich war eben gerade offen und versank nicht in | |
Infektionen. | |
Und doch, es war ein Schluck von neuem Leben, eine Aussicht, die ruft und | |
sich nun entzieht. Ich warte, wieder fahren zu können, mit jedem Tag | |
ungeduldiger. | |
Ich weiß nicht, wie die Leute das machen, die hier Alltag leben. Es ist wie | |
bei dem Knecht bei John Steinbeck, dem das alte Dorf grau erscheint, der | |
dort friert. Wer einmal die Freiheit gespürt hat, kann nicht bleiben. | |
Früher mochte ich dieses schicksalhafte Pathos an der Geschichte. Natürlich | |
sind wir auch schlicht von Reiz überflutet. Wer ständig erlebt, muss diese | |
Erlebnisse wiederholen und steigern, eine immer neue Dosis von was auch | |
immer. Abstinent sein kann nur, wer nie wirklich gekostet hat. Vielleicht | |
ist es aber auch einfach Schicksal, [3][das Reisende gegriffen] hat. Als | |
ich schreiben konnte, habe ich in ein erstes Poesiealbum als Zukunftswunsch | |
geschrieben: „Durch die Welt ziehen“. Ich habe Listen von Ländern verfasst, | |
in die ich gehen würde, voll Aufregung und voll Angst, es würde nie | |
passieren; es war eine Sehnsucht, die pochte, ein Teil des Körpers, der ja | |
wohl schon da drüben gewesen sein musste, schon immer. | |
Bei John Steinbeck gibt es gewiss am Ende eine dröge Moral, die sinngemäß | |
lautet: Gib acht, was du dir wünschst. Henry Morgan hat alles gesehen und | |
erlebt, wurde nie zufrieden und ist seelisch im Eimer. Aber das stimmt | |
meistens nicht. Das kann nur glauben, wer nicht wirklich gereist ist. | |
Noch eine Sache, natürlich, stimmt nicht. Bevor Henry abreist, sagt er: | |
„Ich komme zurück, wenn ich wieder ganz bin.“ Das glaubt er doch wohl | |
selbst nicht. Denn der Teil des Körpers in der Welt wird immer dort | |
bleiben. | |
11 Jan 2021 | |
## LINKS | |
[1] /Debatte-Urlaub-im-Klimawandel/!5151335 | |
[2] /Schwerpunkt-Coronavirus/!t5660746 | |
[3] /Corona-fuer-freie-Himmel/!5681079 | |
## AUTOREN | |
Alina Schwermer | |
## TAGS | |
Schwerpunkt Coronavirus | |
Navigationshilfe | |
Reisen | |
Schwerpunkt Coronavirus | |
Pandemie | |
Schwerpunkt Coronavirus | |
Navigationshilfe | |
Navigationshilfe | |
Navigationshilfe | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Wohnungstausch statt Urlaub: Hier und weg | |
Verreisen kann man gerade nicht. Deshalb tauschen wir die Wohnung mit | |
meiner Schwester – als coronakonformer Tapetenwechsel. | |
Heimatgefühle auf Reisen: Polyamorie der Heimaten | |
Seit Jahren wieder einmal am Mittelmeer. Die salzhaltige Seeluft, der Duft | |
der Pinien und Zypressen, und sogleich sind Erinnerungen da. | |
Abgehängt als Touri in der Schweiz: Finanzpolitik am Tresen | |
Auf dem Splügenpass kurz vor Italien, im Nebel und Nieselregen zwischen | |
Berghängen ging nichts mehr. Ein teurer Zwischenstopp. | |
Die Mitfahrgelegenheit: Schweigsame Gesellen | |
Nie ging es um Namen, selten um Persönliches, meist um den | |
Globetrotter-Schwanzvergleich – die Kommunikation unterwegs ist oft | |
beschränkt. |