# taz.de -- Soziologin über Intimität in Coronazeiten: „Da wächst körperl… | |
> Nähe ist wichtig, aber derzeit gefährlich. Ein Gespräch mit der | |
> Soziologin Andrea Newerla über Intimität für Nichtmonogame in der | |
> Pandemie. | |
Bild: „Immer mehr Menschen spüren, wie sich der Entzug von Körperlichkeit n… | |
taz: Frau Newerla, körperliche Nähe tut gut und ist gesund. Aber in der | |
Pandemie kann Nähe auch gefährlich sein. Was macht das mit unserem | |
Verhältnis zu Sex und Kuscheln? | |
Andrea Newerla: Dem Körperlichen schenken wir in unserer Gesellschaft | |
ohnehin relativ wenig Aufmerksamkeit, verglichen mit dem Rationalen. In | |
dieser Krise wird es nun noch mal stärker hintangestellt. Gleichzeitig | |
bemerken Menschen gerade jetzt, dass Körperlichkeit ein ganz elementarer | |
Teil ihres Lebens ist. Natürlich empfinden es viele als selbstverständlich, | |
jetzt enthaltsam zu sein. Sie begreifen das als solidarische Geste. | |
Gleichzeitig spüren immer mehr Menschen, wie sich der Entzug von | |
Körperlichkeit negativ auf ihre Psyche auswirkt. Menschen, denen Kontakte | |
fehlen, berichten mir von depressiven Verstimmungen, schlechter Laune, | |
sogar Aggressionen. Bei vielen geht es an die Grenzen der Belastbarkeit. | |
Sie haben umfangreiche Interviews geführt, unter anderem mit Menschen, die | |
Beziehungen jenseits des romantischen Ideals pflegen. Also [1][zum Teil | |
Personen], die wenig oder nichts von Monogamie und exklusiven | |
Zweierverbindungen halten. Wie erleben die die Krise? | |
Sie sehen es als notwendig, ihre Kontakte zu beschränken. Gleichzeitig | |
erleben sie das aber auch als Verlust und schmerzliche Erfahrung. Sie | |
müssen Menschen aus ihrem Geflecht aus Beziehungen ausschließen. Oder mit | |
ihnen eine andere Form der Intimität eingehen, die nicht unbedingt | |
körperlich ist. Auf der anderen Seite machen Menschen in diesen | |
Beziehungsgeflechten die Erfahrung, depriorisiert zu werden, „weniger | |
wichtig“ zu sein. Das widerspricht ja eigentlich den Idealen polyamoröser | |
und nichtmonogamer Modelle. | |
Über weite Strecken des Jahres war es nicht nötig, Körperkontakte auf eine | |
Person zu beschränken, zum Beispiel wenn gewisse Zeitabstände zwischen Sex | |
oder Kuscheln mit verschiedenen Leuten eingehalten wurden. Warum hat man | |
Beziehungen trotzdem umorganisiert? | |
Diese Gelegenheit zur Normalisierung, die Sie beschreiben, haben nach der | |
ersten Welle sehr wohl einige ergriffen. Aber im Sommer waren keineswegs | |
alle plötzlich wieder so polyamorös wie vor der Pandemie. In meinen | |
Interviews habe ich erfahren, dass es ein gewisses gegenseitiges Anspornen | |
zum „Durchhalten“ gegeben hat. Viele sind bei ihren Arrangements aus der | |
ersten Welle geblieben, nicht unbedingt mit genau einem Partner, aber | |
zumindest bei bestimmten Priorisierungen. In manchen der Polyküle – so | |
heißen diese Beziehungsgeflechte – kam es sogar zu Brüchen, weil die | |
Risikoeinschätzungen so stark auseinandergingen, dass sie nicht zu | |
vereinbaren waren. | |
Nehmen wir an, jemand hat einen Partner und mehrere regelmäßige | |
Sexfreundschaften. Zudem wird umarmt und gekuschelt mit engen Freund:innen | |
und deren Kindern, Eltern, Geschwistern. Nun heißt es plötzlich: Kontakte | |
einschränken. Was tut man? | |
Meine Befragten [2][mussten plötzlich entscheiden]: Wer ist für mein Wohl | |
gerade wichtig und wer nicht? Einige haben die Erfahrung gemacht, dass sie | |
ausgegrenzt wurden, oder sich so gefühlt. Sie seien „nicht ganz so wichtig“ | |
wahrgenommen worden. | |
Das heißt, es kommt zu Verletzungen. | |
Eindeutig. | |
Welche Rolle spielt Eifersucht? | |
Normalerweise ist das ein hochrelevantes Thema in nichtmonogamen | |
Beziehungsmodellen. Tatsächlich scheint es in diesem Fall aber nicht so | |
wichtig gewesen zu sein. Diejenigen, die Ausgrenzungserfahrungen gemacht | |
haben, die sich als „nicht ganz so wichtig“ fühlten, waren auch sehr | |
verständnisvoll. Oft wurde das so begründet: Corona ist nun mal da, und | |
Menschen müssen Entscheidungen treffen – das mag sich für mich gerade | |
schmerzhaft anfühlen, aber es ist notwendig. | |
Die Gesamtsituation nimmt also von den Einzelnen den moralischen Druck weg? | |
Ja. Allerdings wird der moralische Druck womöglich woandershin verlagert. | |
Diejenigen, die ausgegrenzt wurden, sind ja wieder auf der Suche nach neuen | |
Partner*innen. Und ringen mit sich: Ist es wirklich legitim, dass ich jetzt | |
zu daten anfange? Ist es okay, das Risiko einzugehen, oder bin ich | |
egoistisch? Da spielt auch der Hedonismusvorwurf hinein, mit dem sich viele | |
dieser Menschen herumschlagen müssen. | |
Also die, die übrig bleiben beim Beziehungensortieren, müssen sich danach | |
rechtfertigen, dass sie wieder auf die Suche gehen. | |
Genau. Vor sich selbst, aber auch vor Freund:innen und Bekannten, die | |
dann fragen: Ist das wirklich notwendig? Lässt sich das für die [3][Zeit | |
der Pandemie nicht aushalten]? Von derlei Fragen berichten übrigens auch | |
Personen, die durchaus eine feste Partner*in haben, aber in einer andern | |
Stadt leben und sich deshalb Körperkontakte an ihrem Wohnort suchen | |
möchten. | |
Die Wiener Soziologin Barbara Rothmüller hat während der ersten Welle 5.000 | |
Menschen über ihre intimen Beziehungen befragt. Rothmüller stellte einen | |
Effekt der „Monogamisierung“ fest. Das passt zu dem, was Sie sagen. Sehen | |
Sie das als Kurzzeitphänomen – oder könnte der Monogamietrend anhalten? | |
Das wird spannend. Was passiert in der Postpandemiezeit – also im Lauf des | |
nächsten, vielleicht auch erst übernächsten Jahres? Wie wirkt sich das 2020 | |
Erlebte langfristig auf die Intimverhältnisse aus? Ich kann mir zweierlei | |
vorstellen: Die einen merken, dass eine monogame Beziehung doch besser zu | |
ihnen passt. Gerade im jüngeren, linksliberalen Umfeld ist man ja mit einer | |
Fülle aus Beziehungsmodellen konfrontiert. Ich kann mir durchaus | |
vorstellen, dass manche da auch einen Druck verspürt haben, viel | |
auszuprobieren. Dieser Druck entfällt jetzt. Andererseits werden viele | |
Menschen natürlich weiter in polyamorösen Beziehungen leben wollen. Denken | |
wir an all die, die sich mit intimen Partner*innen gerade nur im Internet | |
verabreden. Da wächst natürlich weiterhin eine körperliche Sehnsucht heran. | |
In meinen Befragungen habe ich immer wieder gehört, dass es zwar nicht die | |
richtige Zeit sei für vielfältige spielerische, experimentelle sexuelle | |
Begegnungen, aber dass viele genau dies eben auch sehr vermissen. Ich bin | |
sehr gespannt, was passiert, wenn körperliche Nähe irgendwann nicht mehr | |
gefährlich ist. Feiern dann alle wilde Orgien und Sexpartys? Oder werden | |
die ersten Begegnungen eher behutsam? Beides ist möglich. | |
6 Jan 2021 | |
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## AUTOREN | |
Peter Weissenburger | |
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