# taz.de -- Migration in Westafrika: Tödliche See, tödlicher Sand | |
> Was der wiederaufgeflammte Westsahara-Konflikt mit der Wiederbelebung der | |
> tödlichen Atlantik-Migrationsroute auf die Kanaren zu tun hat. | |
Bild: Demonstrieren für Selbstbestimmung: Sahrauis am Donnerstag vor der Botsc… | |
Es wird wieder getrauert in Senegal. So zahlreich wie seit vierzehn Jahren | |
nicht mehr suchen Migranten den Weg [1][aus Afrika über den Atlantik auf | |
die Kanaren] – an die 20.000 dieses Jahr bereits, rund 400 Ertrunkene sind | |
bestätigt. Der Seeweg zur spanischen Inselgruppe ist rund 1.500 Kilometer | |
lang. Stolze 800 sind es noch aus dem Hafen Nouadhibou in Mauretanien, dem | |
nächstgelegenen Sammelort. | |
Eigentlich liegen die Kanaren nur 150 Kilometer von Afrikas Küste entfernt. | |
Wieso also diese ewig lange Seeroute? Den Grund erkennt man auf Anhieb auf | |
jeder Weltkarte. Dort liegt an Afrikas Nordwestküste gegenüber der Kanaren | |
ein grauer oder weißer Fleck: die Westsahara. Sie beginnt 55 Kilometer | |
nördlich von Nouadhibou und sie versperrt den Weg nach Norden. | |
Administrativ gehört die Westsahara zu Marokko. Aber völkerrechtlich | |
definiert die UNO sie als letztes noch nicht entkolonisiertes Territorium | |
des Kontinents, sein Status ist in der Schwebe seit dem Rückzug der | |
Kolonialmacht Spanien im Jahr 1975. Der Nachbar Marokko hat die Westsahara | |
zwar annektiert, doch eine in algerischen Flüchtlingslagern ansässige | |
Exilregierung der bewaffneten Unabhängigkeitsbewegung Polisario reklamiert | |
die Westsahara als Staatsgebiet. Eine 2.700 Kilometer lange militärische | |
Sperranlage unter UN-Überwachung trennt den marokkanisch kontrollierten | |
Großteil der Westsahara von dem, wo die Polisario freie Hand hat. | |
Seit 1991 schweigen dort die Waffen, aber jetzt kommt Bewegung in den | |
Konflikt. Im November kündigte die Polisario den Waffenstillstand mit | |
Marokko auf. Vergangene Woche [2][erkannten die USA als erster großer Staat | |
der Welt Marokkos Souveränität über die Westsahara an]. | |
Das Wüstengebiet war einst eines der letzten Überreste von | |
„Spanisch-Westafrika“, Relikt der Eroberungsfeldzüge des katholischen | |
Spaniens in Nordafrika. Als Spaniens Diktator Franco 1975 starb, sah | |
Marokko in seiner Rückgewinnung eine Fortsetzung seines antikolonialen | |
Widerstands. Die 1973 gegründete Polisario hingegen pochte auf das | |
Selbstbestimmungsrecht der „Sahrauis“ und rief ihren eigenen Staat aus. | |
Marokko obsiegte militärisch, die Polisario diplomatisch. Seitdem prallen | |
in der Westsahara zwei unvereinbare antikoloniale Befreiungslogiken | |
aufeinander. Die von der UNO 1991 angepeilte Friedenslösung – ein | |
Referendum unter den Sahrauis – wird mit jedem Jahr hinfälliger. Heute | |
leben in der Westsahara zumeist dort geborene Marokkaner, aber sie hätten | |
kein Stimmrecht. | |
Die meisten heutigen Bewohner der Flüchtlingslager in Algerien haben die | |
Westsahara nie gesehen, aber sie würden entscheiden. Seit dem Ende der | |
spanischen Herrschaft sind jetzt so viele Jahre vergangen wie vom Verlust | |
der deutschen „Ostgebiete“ 1945 bis zur deutschen Einheit 1990 – nur | |
Ewiggestrige forderten 1990, die Uhren um 45 Jahre zurückzustellen, aber | |
genau das will die Polisario heute in der Westsahara. | |
Die Realität ist dem Konflikt längst enteilt. Die Sahrauis warten nicht | |
passiv in Zelten auf die Rückführung ins Gelobte Land. Wer kann, hat | |
algerische Papiere, um in einer Stadt den Kindern ein normales Leben zu | |
gewähren. Dazu mauretanische Papiere, um die Westsahara besuchen zu können. | |
Das mauretanische Nouadhibou am Atlantik ist heute nicht nur Drehkreuz der | |
Migration, sondern auch Treffpunkt für Westsahara-Bewohner und | |
Westsahara-Flüchtlinge. Von hier aus werden Geschäfte Richtung Norden | |
gemacht. Wie so oft überwinden die Menschen festgefahrene Fronten mittels | |
multipler Identitäten. | |
Marokko begriff dies zuerst. Seit 2002 wird Marokkos „Nationalstraße eins“ | |
etappenweise von Tanger im Norden 2.379 Kilometer bis zur Grenze der | |
Westsahara zu Mauretanien geführt, wo sie ans westafrikanische Straßennetz | |
Anschluss findet. Nicht zufällig hat sich genau dort, am Grenzübergang | |
Guerguerat, der aktuelle Konflikt entzündet. Marokko begann vor einigen | |
Jahren, die letzte Straßenlücke im 3,8 Kilometer breiten Niemandsland | |
zwischen den marokkanischen und mauretanischen Grenzposten zu schließen. | |
Die Polisario versucht dies zu verhindern – mit dem Argument, den Übergang | |
Guerguerat habe es 1991 noch nicht gegeben, was allerdings genauso auf die | |
meisten Sahrauis zutrifft. Im November schickte Marokko seine Armee los, | |
die Polisario kündigte den Waffenstillstand auf. | |
Einst war Guergerat ein Riegel, der Maghreb und Subsahara-Afrika trennte. | |
In diesem Jahrhundert wurde daraus ein blühendes Grenzgebiet, das das | |
arabische und das schwarze Afrika zusammenführt. Westafrikanische Händler | |
weiten ihre Geschäfte nach Norden aus, Marokko findet Anschluss an | |
Westafrika, wo seine Banken Großinvestitionen und seine religiösen | |
Institutionen einen Gegenpol zum radikalen Islamismus bieten. | |
Die auf beiden Seiten hochgerüstete und verminte Waffenstillstandslinie in | |
der Westsahara ist hingegen die Existenzgrundlage der Polisario – und | |
zugleich die Abwehr von Flucht und Migration nach Europa. Das macht die | |
Polisario zu einem nützlichen Baustein von Europas Flüchtlingsabwehr. Kein | |
Wunder, dass Europa nicht versucht, den Westsahara-Konflikt zu lösen. Im | |
deutschen Asylrecht ist die Westsahara Teil des „sicheren Herkunftslandes“ | |
Marokko und Sahrauis können abgeschoben werden, aber Deutschland erkennt | |
Marokkos Herrschaft über das Gebiet offiziell nicht an. | |
Es liegt auch im Interesse Europas, Guerguerat wieder zu schließen. Denn | |
auch Migranten hatten zuletzt das geöffnete Tor entdeckt, und immer mehr | |
Westafrikaner ließen sich in der Westsahara nieder – bis zur Coronakrise. | |
Jetzt wird alles rückgängig gemacht. [3][Mauretanien schloss am 13. März | |
alle Landgrenzen] monatelang, was die Routen wieder ins Meer verlagerte. | |
Und mit dem neuen Streit um Guergerat erfüllt der Konflikt seine bewährte | |
Funktion: Er hält Afrika gespalten und damit auch Afrikaner von Europa | |
fern. | |
14 Dec 2020 | |
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## AUTOREN | |
Dominic Johnson | |
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