# taz.de -- Coronatote im Iran: Zweigleisig gegen das Virus | |
> In Iran sorgen konkurrierende staatliche Pandemie-Einheiten für | |
> Verwirrung. Dabei braucht das Land wegen der hohen Todeszahlen bessere | |
> Maßnahmen. | |
Bild: Im Baumodus: Der Behescht-e-Zahra-Friedhof in Teheran bereitet sich auf v… | |
Hamburg taz | Es sind zehn Monate vergangen, seitdem der iranische Staat | |
seiner Bevölkerung versichert hat, dass die Ausbreitung von Covid-19 unter | |
Kontrolle sei. Nach der anfänglichen Phase des Leugnens und der | |
Verharmlosung der Krankheit scheint der Gottesstaat die Gefahr der Pandemie | |
nun ernst zu nehmen. | |
Am Freitag gab das iranische Gesundheitsministerium an, binnen der | |
vergangenen 24 Stunden hätten 406 Menschen im Zusammenhang mit dem | |
Coronavirus ihr Leben verloren. 14.051 neue Infektionsfälle wurden an | |
diesem Tag nachgewiesen. Seit Beginn der Pandemie starben im Iran laut | |
offiziellen Angaben 47.095 Menschen am Coronavirus. | |
Damit hat Iran eine der höchsten Übersterblichkeitsraten weltweit. | |
Offizielle Erklärungen dafür gibt es nicht. Es könnte daran liegen, dass im | |
Iran nur wenige Menschen getestet werden. In sozialen Medien beschweren | |
sich zahlreiche Nutzer*innen, dass sie sich wegen ihrer Symptome testen | |
lassen wollten, aber ohne Test nach Hause geschickt wurden. | |
Viele suchen vermutlich gar nicht erst Krankenhäuser auf: Ein junger Iraner | |
aus einer Kleinstadt, der deutliche Symptome zeigte, schrieb, dass er auf | |
keinen Fall ins Krankenhaus wolle, weil er sich dort erst recht infizieren | |
würde. Er bleibe lieber zu Hause unter Selbstquarantäne. Diese Menschen | |
tauchen in den Statistiken nicht auf. | |
## Kritik am Gesundheitsministerium | |
Seit dem 20. November herrschen in 159 Städten des Landes Restriktionen, um | |
die Ausbreitung des Coronavirus einzudämmen. So sind seit dem 21. November | |
private Autofahrten zwischen 21 Uhr und 4 Uhr in den Städten, die als „rot“ | |
bezeichnet werden, verboten. Viele Läden mussten schließen, andere dürfen | |
nur bis 18 Uhr ihre Türen öffnen. Diejenigen, die gegen diese Regeln | |
verstoßen, müssen mit Geldstrafen oder der Aufhebung der | |
Betriebsgenehmigung rechnen. | |
Im öffentlichen Dienst dürfen nur ein oder zwei Drittel der Kapazität | |
besetzt sein, je nachdem, ob sie sich in einer gelben, orangen oder roten | |
Region befinden. Halten sich die Staatsbeamten und Leiter*innen der | |
staatlichen Behörden nicht an die Regeln, droht Entlassung. | |
Diese Bestimmungen wurden durch das sogenannte „operative Hauptquartier der | |
Taskforce im Kampf gegen das Coronavirus“ erlassen. Dieses wurde erst | |
Anfang November eingerichtet und untersteht dem Innenministerium, während | |
die Corona-Taskforce, die bisher für Eindämmung der Pandemie zuständig war, | |
eine Abteilung des Gesundheitsministeriums ist. | |
Innenminister Abdolreza Rahmani Fazli hat in der ersten Sitzung des neu | |
eingerichteten Hauptquartiers die bisherige Umsetzung der | |
Präventionsmaßnahmen kritisiert. Alle Möglichkeiten stünden zur Verfügung, | |
die Maßnahmen durchzusetzen, doch die Gouverneure der Provinzen und die | |
Bürgermeister*innen hätten die Beschlüsse nicht vollständig | |
angewendet, sagte Rahmani Fazli. | |
## Unsicherheit in Zeiten der Pandemie | |
Seitdem ändern sich die Regeln zur Eindämmung der Pandemie ständig, sagt | |
Rechtswissenschaftler und Journalist Armin Soleimany in Teheran. „Binnen | |
weniger Stunden melden die Medien neue Entscheidungen der zuständigen | |
Taskforce oder des Hauptquartiers“. | |
Das bestätigt eine andere Journalistin in Teheran, die aus | |
Sicherheitsgründen ihren Namen nicht erwähnt haben will. „Soviel ich weiß, | |
stehen alle Länder, auch die reichen, vor großen Herausforderungen. Aber | |
der Unterschied im Iran ist, dass Menschen nicht wissen, was sie tun | |
sollen“, sagt die Journalistin. „Keiner weiß, was der Plan des Staates für | |
morgen ist.“ Die Bürger*innen seien zunehmend irritiert darüber, wie sie | |
sich in der Pandemie verhalten sollen. | |
Das Vertrauen in die Coronapolitik der Regierung sei ohnehin bei vielen | |
gestört, sagt Journalist Soleimany in Teheran. Denn wie erst im Nachhinein | |
ans Licht kam, reagierte der iranische Staat zu Beginn des Jahres viel zu | |
spät auf die Gefahr des Coronavirus. | |
Am 11. Februar, als es längst Corona-Infektionen im Land gegeben haben | |
muss, nahmen noch Hunderttausende Iraner*innen an öffentlichen Feiern | |
zum Jahrestag der Islamischen Revolution teil. Sie ignorierten das Virus | |
oder waren sich der Gefahr einer Ansteckung nicht bewusst. Am 21. Februar | |
[1][fand noch die Parlamentswahl] statt – erst danach gab das | |
Gesundheitsministerium zu, dass doch Corona-Infektionsfälle im Iran | |
registriert worden seien. | |
Kurz darauf rangierte Iran unter den [2][am stärksten vom Coronavirus | |
betroffenen Ländern] auf der Welt, die Kapazitäten in den Krankenhäusern | |
waren erschöpft. Und trotzdem reagierte das Regime mit Schuldzuweisungen | |
statt sinnvollen Maßnahmen: Präsident Hassan Rohani machte am 25. Februar | |
in einer Pressekonferenz [3][„ausländische Feinde“ verantwortlich]. | |
## Prekäre wirtschaftliche Situation | |
„In den Neujahrsferien im März erwarteten viele, dass die Regierung einen | |
kompletten Lockdown verhängt“, sagt Soleimany. „Da die Wirtschaft und | |
die Schulen sowieso geschlossen waren, wäre das einfach gewesen.“ Als das | |
Regime keine besonders wirksamen Maßnahmen durchführte, seien viele | |
Bürger*innen selbst aktiv geworden. | |
Trotz der uralten Traditionen hätten viele auf den Familien- und | |
Verwandtenbesuch in den Ferien verzichtet. Private Unternehmen hätten ihre | |
Mitarbeiter*innen von zu Hause aus arbeiten lassen. Menschen hätten sich | |
gegenseitig im Alltag unterstützt. Doch die Zahlen der Infektions- und | |
Todesfälle steigen heute weiter. | |
Ohnehin hänge es vor allem von der eigenen wirtschaftlichen Situation ab, | |
inwiefern man sich an die Coronamaßnahmen hält. „Diejenigen, die gut | |
verdienen, können sich Hygieneartikel besorgen, haben mehr Zeit, sich zu | |
informieren, und haben Zugang zu den außerstaatlichen Medien“, sagt | |
Soleimany. Aber in armen Bezirken, wo Menschen in kleinen Räumen dicht | |
beieinander leben, sich die Bewohner*innen keine Masken und | |
Desinfektionsmittel leisten können, seien die Hygienemaßnahmen ein Witz. Er | |
selbst sei als Freiwilliger oft in benachteiligten Gegenden unterwegs | |
gewesen und habe das beobachtet. | |
Die Regierung hat nun Hilfspakete im Umfang von etwa umgerechnet 4 Euro pro | |
Kopf für ein Drittel der Bevölkerung versprochen. Angesichts der heutigen | |
Preise reiche das höchstens für Lebensmittel für drei Tage, so Soleimany. | |
Homeoffice ist ohnehin nur für wenige eine Option. Für die meisten | |
Iraner*innen, die bereits durch [4][amerikanische Sanktionen], | |
staatliche Korruption und Misswirtschaft unterhalb der Armutsgrenze leben, | |
kommt es gar nicht infrage, nicht zur Arbeit zu gehen. | |
„Ich habe viele getroffen, die meinten, sie würden sich vielleicht | |
infizieren, wenn sie arbeiten gehen“, sagt der Journalist und | |
Rechtswissenschaftler. „Aber wenn sie nicht arbeiten gehen, verhungert die | |
ganze Familie.“ | |
## Jede*r kennt Corona-Betroffene | |
Hinzu kommt die Verwirrung rund um die Infektionszahlen. Laut der | |
Journalistin aus Teheran, die anonym bleiben will, gibt es seit einem Monat | |
ein regelrechtes Wettlaufen zwischen den Ministerien und anderen | |
Einrichtungen darum, wer die höheren Infektionszahlen verkündet. Der | |
stellvertretende Gesundheitsminister sagte in einem Interview, die | |
tatsächlichen Zahlen seien etwa zweifach höher als die offiziellen. Der | |
Vorsitzende der Ärztekammer des Iran sprach von einer dreifachen Höhe. | |
Das solle die Menschen vermutlich zur Vorsicht mahnen, sagt die | |
Journalistin. Aber den meisten Menschen seien die Zahlen inzwischen egal. | |
Da fast alle im Iran jemanden in der Familie oder im Freundeskreis kennen, | |
der oder die sich infiziert hat oder sogar gestorben ist, würden sie sich | |
vielmehr Sorgen um deren Leben machen und nicht darum, ob die Zahlen | |
stimmen oder nicht. | |
27 Nov 2020 | |
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## AUTOREN | |
Omid Rezaee | |
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