# taz.de -- Die Wahrheit: Im großen Coronadorf | |
> Gutherzige und liebevolle Menschen, die im Buch der Bücher lesen und | |
> Limonade trinken – so sieht der Wohlfühlort unserer Zeit aus. | |
Vor 70 Jahren beherrschte der Bing Crosby-Song „Dear hearts and gentle | |
people“ wochenlang die US-Billboard-Charts. Es ging darin um die Idylle | |
einer Kleinstadt-Heimat in Idaho: „I love those dear hearts and gentle | |
people / that come from my home town“, schmalzt Crosby einen Text von Bob | |
Hilliard, „because those dear hearts and gentle people / will never ever | |
let you down“. | |
Vor allem wussten diese gutherzigen Menschen genau, was man mit den | |
Wochenenden anfängt, wenn sonst nichts los ist im Kaff: „They read the good | |
book from Fri’ till Monday / that’s how the weekend goes“, singt Crosby u… | |
referiert damit wohlweislich nicht etwa auf „a good book“, irgendein gutes | |
Buch, sondern auf das wahre und einzige „gute Buch“: Das Buch der Bücher. | |
Der weitere Songtext sagt nichts darüber aus, wie es sich mit dem | |
Lesekonsum der Kleinstädter im Rest der Woche verhält – anzunehmen ist | |
aber, dass Dienstag bis Donnerstag mit Limonade machen, Felder bestellen | |
und illegalen Abtreibungen rumgebracht wurde. Und abends ging man früh ins | |
Bett. | |
Eigentlich fast wie jetzt. Die dörfliche Anmutung, die momentan weltweit | |
wie ein Das Goldene Blatt-Nebel über Stadt und Land wabert, zeigt sich in | |
den notgedrungen (neu)entdeckten Hygge-Interessen: Puzzle sind ausverkauft, | |
und in den anonymen Hochhausfluren der Metropolen riecht es nicht mehr | |
säuerlich nach Erbrochenem, sondern süßlich nach Vanille und | |
Wacholderbeeren. | |
Zudem bildet man sich ebenfalls am Wochenende weiter. Nicht mit „the good | |
book“, aber mit Serien wie „Virgin River“, deren zweite Staffel just hoch | |
oben in den internen Streamingcharts startete. Es geht darin um die aus Los | |
Angeles in eine Kleinstadt ausgewanderte Hebamme Mel, die den erwähnten | |
Crosby-Song live nachvollzieht: Im imaginären „Virgin River“ tragen die | |
Männer karierte Hemden und fahren Pick-ups, die Frauen backen Muffins und | |
Pies, und jeder Haushalt besitzt mindestens drei Stücke Tupperware plus | |
Deckel, damit sich die Muffins und Pies (per Pick-up) zu den anderen | |
bringen lassen. | |
Das ganze Städtchen ist hetero. Handys, Computer und Flachbildschirme gibt | |
es zwar, aber wieso sollte man solcherlei Teufelswerk benutzen, wenn man | |
sich Sonntagmorgens auch im Jack’s zum Sticken treffen kann!? Trotz der | |
Pies wohnt in „Virgin River“ nur ein einziger übergewichtiger Mann und | |
trotz der US-Vergangenheit als Sklavenhalternation nur ein einziger | |
Schwarzer. Letzterer ist Koch im Jack’s und lebt als Ex-Marine nach dem | |
Corps-Ehrenkodex „Ehre, Mut und Hingabe“. | |
Der Grund, wieso das seifige Szenario so gut ankommt, liegt also auf der | |
Hand: Für das Setting ist es egal, ob es Corona gibt oder nicht. Denn in | |
„Virgin River“ wäre es vorher genauso langweilig wie während der Pandemie. | |
Nur Jack’s hätte geschlossen, zumindest bis 20. Dezember. Aber die „dear | |
hearts and gentle people“ würden den hungrigen Angestellten sicher Pies vor | |
die Tür stellen. | |
4 Dec 2020 | |
## AUTOREN | |
Jenni Zylka | |
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