# taz.de -- Knuddeln in der Pandemie: Hugbefehl | |
> Statt sich eng zu umschlingen und fest zuzudrücken, definierte sich der | |
> Alman-Hug über weit ausgestreckte Arme. Für wen lässt man diese Lücke? | |
Bild: Schön feste, kein lascher Alman-Hug | |
Im Jahre 2020 hittet der 3. Dezember anders. Erklärung: In den USA findet | |
heute seit 1986 der Let’s Hug Day statt. Die wenigsten von uns haben das | |
auf dem Schirm, weil wir auf einem anderen Kontinent leben. In Zeiten von | |
Corona über Umarmungen nachzudenken, wühlt dennoch auf. Ich vermisse es, | |
[1][meine Freund:innen] zu umarmen beziehungsweise eine unlimitierte Anzahl | |
an Leuten umarmen zu können. Damals ging ich mit meinen Aerosolen | |
kommunistischer um, ich verteilte sie gönnerhaft an alle, die wollten oder | |
in der Nähe standen, heute bin ich sparsam mit Umarmungen, als wären sie | |
teure Macarons, die nicht auf schnelle Welle verschlungen werden. Nicht aus | |
Geiz, sondern aus Fürsorge. | |
Gleichzeitig überdenke ich [2][mein Verhältnis zu körperlicher Nähe]. Als | |
ich in Wien lebte, war ich zunächst erstaunt darüber, dass man sich dort | |
mit einem Bussi rechts und links begrüßte. Ich fand es schön, aber mein | |
innerer Alman hatte es sich angewöhnt, Menschen ein wenig reservierter zu | |
begegnen. Das hatte sich spätestens in der 8. Klasse beim | |
Frankreich-Austausch eingebürgert, damals hielten meine Mitschüler:innen | |
die Bisous-Begrüßung im Land der Macarons für suspekt. | |
Ich nickte nur beschämt, schwieg darüber, dass meine Verwandten zur | |
Begrüßung nicht nur zwei, sondern sogar drei Küsschen austauschten. | |
Zugegebenermaßen fand ich es als Kind eher lästig, meine von der Hitze | |
klebrige Haut an die Wangen älterer, mir kaum bekannter Frauen zu halten. | |
Reichte es nicht, einfach in die Runde zu winken? In Deutschland klopft man | |
doch auch einfach nur zweimal auf den Tisch und begrüßt so den ganzen Raum. | |
Ende der Mittelstufe wurde aber klar: Körperliche Nähe zu den engen | |
Freund:innen zeugte von Selbstbewusstsein und Erwachsensein. Die Coolsten | |
gingen sogar samstags in die Fußgänger:innenzone der benachbarten | |
Großstadt und boten Free Hugs an. Wow, dachte ich, wie freigeistig und | |
lässig ist das denn! Damals assoziierte ich Hippietum nicht mit | |
Antisemitismus, Sekten und Coronaleugnen. Nur mit Liebe, Körperbehaarung | |
und Gras. | |
## Die lasche Alman-Umarmung | |
Die Welt war noch in Ordnung. Was meine Freund:innen von meinen Verwandten | |
unterschied, war ihr Weißsein. Die Selbstverständlichkeit für die | |
körperliche Nähe zu (fast) Fremden ließ die einen auf mich modern wirken | |
und die anderen aufdringlich. Als ich zu studieren begann und weiße | |
Deutsche irgendwie doof fand, machten meine Freund:innen und ich uns über | |
die Alman-Umarmung lustig. | |
Statt sich eng zu umschlingen und fest zuzudrücken, definierte sich dieser | |
Hug über weit ausgestreckte Arme, laschen Druck (als kuschelte man mit | |
einer Handvoll Joghurt) und dem leeren Raum zwischen den Körpern. Für wen | |
ließ man diese Lücke? Für Jesus? Für Bockwurst? Für die verliehenen 20 | |
Cent? Und heute so: Klar, das Knuffeln meiner Freund:innen fehlt mir, aber | |
irgendwie möchte ich auch nach Corona nur diejenigen drücken, die ich | |
wirklich umarmen möchte. Und dann aber richtig fest und lang. | |
3 Dec 2020 | |
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## AUTOREN | |
Hengameh Yaghoobifarah | |
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