# taz.de -- Seenotretter über das Nord-Süd-Gefälle: „Die große Flucht kom… | |
> Gorden Isler ist Unternehmer, Grüner und Seenotretter. Ein Gespräch über | |
> Arschlochquoten, den Klimawandel und wirtschaftliches Wachstum. | |
Bild: Arbeitet mittlerweile mehr für Sea-Eye als für das eigene Unternehmen: … | |
taz: Herr Isler, als vor ein paar Tagen wieder mindestens 74 Menschen bei | |
einem Schiffsunglück vor Libyen starben, gab es wieder schreckliche | |
Kommentare auf Social Media. Seenotretter werden bedroht. Ihre Familie muss | |
solche Dinge mittragen, oder? | |
Gorden Isler: Meine Frau trägt das natürlich mit, seit vier Jahren. Aber | |
grundsätzlich versuche ich, meine Familie komplett rauszuhalten. Es ist | |
schließlich meine persönliche Entscheidung, mich in so exponierter Weise | |
für Seenotrettung zu engagieren. Und da bekommt man auch viel Hate Speech | |
ab. Oder sogar Morddrohungen. | |
Morddrohungen sogar? | |
Ja, als ich im Juni 2019 Einsatzleiter auf der [1][„Alan Kurdi“] war. | |
Eines von mittlerweile wieder zwei Seenotrettungsschiffen der | |
Hilfsorganisation Sea-Eye. | |
Exakt. Da hatte mir jemand wirklich direkt ins Facebook-Profil eine | |
Morddrohung gepostet. Mit Namen, Foto und Arbeitsplatz. Er hat mir einen | |
Kopfschuss angedroht. | |
Und das war kein Fake-Profil? | |
Nein. Ich habe das dann an unseren Anwalt weitergeleitet, der hat | |
Strafanzeige gestellt. Der letzte Stand war, dass die Bremer | |
Staatsanwaltschaft sich bei mir gemeldet hat, ob ich wisse, wo die Person | |
sich aufhält, sie wüssten es nicht. Ansonsten stehen wir bei solchen | |
Fällen, auch bei anderen im Verein, aber in gutem Kontakt zur | |
Bundespolizei. Die interessieren sich auch dafür und fragen immer mal | |
wieder nach. Aber ich sehe es nicht als unsere Aufgabe, mit einer trolligen | |
Minderheit zu streiten. Unsere Aufgabe ist es, Menschenleben zu retten. | |
Ist das wirklich so eine Minderheit? Die dank des Netzes lauter ist als | |
üblich? Oder wächst da nicht doch ein größeres Problem heran? | |
Ich beobachte schon eine Polarisierung. Aber wenn man sich Wahlumfragen in | |
Deutschland anschaut, habe ich nicht den Eindruck, dass die AfD stark | |
profitiert von der Polarisierung. Das scheint eher wieder zurückzugehen. Im | |
September gab es eine Umfrage, laut der über 90 Prozent der Befragten | |
bereit waren, Menschen aus Moria aufzunehmen. Manche haben das an eine | |
Bedingung geknüpft. Etwa dass andere auch aufnehmen müssen. Aber nur etwa | |
acht Prozent haben kategorisch gesagt: Nein. Interessanterweise ist die AfD | |
in den Umfragen auch bei acht Prozent gerade. Wir haben also eine stabile | |
Arschlochquote zwischen acht und zehn Prozent. Aber insgesamt ist | |
Deutschland bei den 90 Prozent sehr stabil. | |
Anders als in anderen Ländern. | |
Ja, genau. Und das ist der Vorwurf, den ich unserer Regierung auch mache. | |
Dass sie den aufnehmenden Ländern am Mittelmeer zu wenig hilft. Und dadurch | |
kommen Menschen wie Matteo Salvini von der Lega Nord an die Macht, die | |
plötzlich einen ganz anderen Ton anschlagen und grundlegendste | |
Menschenrechte infrage stellen. | |
Sie selbst sind ja bei den Grünen aktiv. | |
Ich bin Schatzmeister in einem Grünen-Kreisverband, in Hamburg-Eimsbüttel. | |
Was halten Sie von Schwarz-Grün im Bund 2021? | |
Naja, ich bin kein großer Fan dieser Koalition. Aber es muss sich eben | |
dringend etwas ändern. Und das wird in der Großen Koalition nicht | |
passieren. Allein die Klimafrage drängt so sehr, da müssen jetzt schnelle | |
Entscheidungen her, und das geht nur mit den Grünen. Und das muss und darf | |
auch Geld kosten. Bankenrettung und Corona-Hilfspakete haben auch Geld | |
gekostet. Unser Planet und die Menschen brauchen jetzt auch einen | |
Rettungsschirm. | |
Nun sind Sie ja nicht nur bei Sea-Eye und den Grünen aktiv, sondern auch | |
Unternehmer. Welcher dieser drei Gorden Islers war zuerst da? | |
Bei den Grünen bin ich ja wirklich allein Schatzmeister in einem | |
Kreisverband. Da bin ich einmal die Woche in der Geschäftsstelle. Zuerst | |
war ich Unternehmer. Ich habe mein Jura-Studium in Frankfurt/Oder, da komme | |
ich her, nach zwei Semestern abgebrochen und danach eine Lehre zum | |
Versicherungskaufmann gemacht. | |
Relativ klassischer Weg für verhinderte Juristen, glaube ich. | |
Ja, möglicherweise. Auf jeden Fall wurde mir als jungem naiven Menschen mit | |
Idealen das ganz gut verkauft damals, dass man ja auch in dem Job Menschen | |
hilft, schließlich braucht ja jeder Versicherungen. Und wir bieten heute | |
Versicherungen, Geldanlagen, Finanzierungen an. Vor ein paar Jahren kam | |
dann die ESG-Weiterbildung dazu. | |
ESG? | |
Environment, Social und Governence. Also einfach gute, ökologische und | |
sozial-ethische Unternehmensführung. | |
Und die eigene Firma gibt es seit wann? | |
Die gibt es seit 2006, sie gehört mir und meinem Schwiegervater. Deswegen | |
kann ich mich aber auch überhaupt bei Sea-Eye engagieren, weil meine | |
Kolleg*innen mir den Rücken freihalten und ich mir die Zeit auch nehmen | |
kann. Derzeit kann ich nur noch so 20 bis 30 Prozent meiner Zeit für die | |
Arbeit aufbringen. Den Rest verbraucht Sea-Eye. | |
Was sagen die Kunden? | |
Die tragen das mit. Der ein oder andere rümpft vielleicht mal die Nase, | |
aber sonst finden das alle gut. Erst gestern hat mir ein Neukunde erzählt, | |
dass ich ihm empfohlen worden bin. Aber dass ich vielleicht auch mal nicht | |
erreichbar sei, „dann tingelt der wieder auf dem Mittelmeer rum“. Was den | |
Kunden nicht abgeschreckt hat, im Gegenteil. Er hat gesagt: Das ist mein | |
Mann! Man kann das natürlich schwer messen, aber ich glaube, bisher hat uns | |
niemand verlassen deswegen. | |
Der Statistik von vorhin nach müssten es ja acht bis zehn Prozent sein. | |
Möglicherweise ja. Ich glaube aber, wir haben nicht so eine hohe | |
Arschlochquote. Wir haben ja auch sehr spezielle Kunden. Weil wir | |
überwiegend ökologische und soziale Geldanlagen anbieten. Dadurch haben wir | |
sowieso eher mit netten Leuten zu tun. Und spätestens wenn ich Kunden | |
vorrechne, wie sich nachhaltige Anlagen die vergangenen fünf Jahre | |
entwickelt haben, dann wird auch dem konservativsten Kunden schnell klar, | |
dass es eine verdammt blöde Idee war, bisher nicht nachhaltig investiert zu | |
haben. | |
Für Sie ist das also kein Widerspruch, Investment und ökologisch-soziale | |
Werte? | |
Überhaupt nicht, ganz im Gegenteil. Dieser Widerspruch wird ja konstruiert. | |
Das Gegenteil ist doch schon bewiesen. Wir reden immer darüber, die | |
Wirtschaft zu retten auf einem Planeten, der bald kaputtgeht. Den Planeten | |
zu retten, heißt doch auch, die Wirtschaft zu retten. | |
Müssten Sie da nicht gegen Wachstum sein? | |
Die Weltbevölkerung wächst. Wenn der Wohlstand ein Kuchen wäre, dann | |
braucht man eben mehr davon, damit jeder ein ausreichendes Stück abbekommt. | |
Also halte ich Wachstum schon für eine Notwendigkeit. Allerdings muss es in | |
Einklang mit unseren Lebensgrundlagen stehen. Wir müssen Wachstum so | |
begreifen, dass unser Planet nicht zerstört werden darf, und eben auch die | |
sozialen Lebensgrundlagen anderer Menschen, dass alle eine faire Chance | |
haben müssen. | |
Das Nord-Süd-Gefälle müsste abgebaut werden. | |
Genau so ist es. Es ist ja auch Quatsch, dort nicht kräftig zu investieren. | |
Das sind doch zukünftige Märkte. Dort sind Menschen, die Arbeit wollen, | |
eine Perspektive, die Schulen brauchen, Krankenhäuser. Dann würden sie auch | |
nicht dort wegwollen. Entweder investieren wir und empowern Afrika. Oder | |
wir werden uns an das Sterben an unseren Außengrenzen gewöhnen müssen. Und | |
da, fürchte ich, sehen wir gerade erst den Anfang. Die große Flucht, die | |
der Klimawandel und die Zerstörung ganzer Lebensräume bringen werden, die | |
kommt ja erst noch. Sogar McKinsey prognostiziert 200 bis 400 Millionen | |
Menschen. | |
Deswegen jetzt schon die harte Linie? | |
Genau, das Mittelmeer wird derzeit in eine Art Burggraben umgebaut. Die | |
Zugbrücke wird hochgezogen, es werden noch ein paar Krokodile ins Wasser | |
gesetzt und dann mal gucken, wer es noch schafft. Um gleich die Botschaft | |
zu vermitteln: Keine Chance, ihr kommt hier nicht durch, hier geht es euch | |
nur noch schlechter! Kooperation mit der libyschen Küstenwache, die Türkei | |
als Türsteher, die Lager auf den griechischen Inseln, keine staatliche | |
Seenotrettung, private Seenotretter werden bekämpft, 20.000 Tote – das ist | |
die sogenannte europäische Lösung, wie wir sie jetzt schon haben! | |
Wie kamen Sie zur Seenotrettung? | |
2016 war ich auf meiner ersten Mission bei der Hamburger Organisation | |
„LifeBoat Minden“. Die gibt es leider nicht mehr. Meine Mission im November | |
2016 war dermaßen eindrücklich, wir haben wirklich 72 Stunden am Stück | |
durchgerettet. Tag und Nacht waren Menschen im Wasser, von denen es auch | |
nicht alle geschafft haben. | |
Es sind direkt vor Ihren Augen Menschen ertrunken? | |
Ja. Das war bei Nacht. Es war neblig und wir hatten zwei Schlauchboote, je | |
eines auf jeder Seite mit je rund 120 Menschen. Wir haben die mit unseren | |
Suchscheinwerfern immer halbwegs finden können. Einigen konnten wir | |
Rettungswesten zuwerfen, aber es sind auch immer Menschen ohne Westen vom | |
Boot gerutscht. Und dann waren da 20, 30 Menschen im Wasser. Und | |
diejenigen, die nicht schwimmen konnten, denen musste man dabei zuschauen, | |
wie sie ertrinken. Es dauerte dann noch ein paar Stunden, bis die | |
italienische Küstenwache kam und uns geholfen hat. Wir hatten auch wirklich | |
kleine Kinder mit Atemproblemen auf der Krankenstation. Alles hat nach | |
Benzin gestunken, einfach alles. Weil die Benzinkanister ausgekippt sind | |
auf den Booten. | |
Was hat das mit Ihnen gemacht? | |
Also, ich war ja selbst gerade ein Jahr lang Vater zu der Zeit, und dann | |
hat man da Kinder auf der Krankenstation, die um Atem ringen. Das ist | |
nichts, wo man danach nach Hause fährt und alles ist wie vorher. Da war mir | |
einfach klar, ich muss mich in dem Bereich weiter engagieren. | |
1 Dec 2020 | |
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## AUTOREN | |
Kristian Meyer | |
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