# taz.de -- Geschichte des toten Flüchtlingskindes: Eine ganz normale Familie | |
> Das Bild des ertrunkenen Kindes Alan Kurdi löste 2015 weltweit Bestürzung | |
> aus. Tima Kurdi erzählt nun die Geschichte hinter dem Bild. | |
Bild: Tima Kurdi spricht anlässlich des 5. Todestages ihres Neffen Alan Kurdi … | |
Als das Foto seines Sohnes, der im knallroten T-Shirt und in kurzen Hosen | |
wie schlafend im Sand liegt, im September 2015 um die Welt geht, hofft sein | |
Vater Abdullah, dies würde ein Signal sein: ein Weckruf. Mit dieser | |
Hoffnung war er damals nicht allein. Das Foto des ertrunkenen Jungen ist | |
zwar inzwischen ikonisch geworden, am Elend der Welt aber hat sich nichts | |
geändert. | |
Der kleine syrische Junge hieß Alan Kurdi, und er wollte mit seinen Eltern | |
und seinem Bruder nach Europa fliehen. Ein zu kleines, zu volles Boot und | |
zu hohe Wellen ließen das nicht zu. Es ist eine furchtbare Geschichte und | |
eine exemplarische. | |
Die Tante des Jungen, Tima Kurdi, hat sich dazu entschlossen, sie zu | |
erzählen: „Die Familie, in die ich hineinwuchs, war eine ganz normale | |
Mittelschichtfamilie. Wir lebten wie viele andere. Wir waren nicht reich, | |
doch wir litten keinen Hunger.“ | |
Tima Kurdi wächst mit fünf Geschwistern in Damaskus auf, und wenn sie von | |
dieser Zeit erzählt, fühlt man sich an den sehnenden Ton des [1][syrischen | |
Schriftstellers Rafik Schami] erinnert. Kurdi beschreibt das Leben in den | |
1970er und 1980er Jahren als multireligiöse und -kulturelle Idylle, in der | |
man in Syrien Zuckerfest, Weihnachten und wilde Partys feiert. | |
Orientalisches Laisser-faire. | |
## Der einsetzende Bürgerkrieg | |
Dennoch emigriert Tima Kurdi Anfang der 1990er Jahre nach Kanada. Von dort | |
aus beobachtet sie, wie sich ihre Heimat [2][im 2011 einsetzenden | |
Bürgerkrieg verändert]. „Krieg. Stell dir vor, er wäre hier“ heißt ein | |
Büchlein der Autorin Janne Teller. | |
Ganz ähnlich argumentiert Tima Kurdi: „Stellen Sie sich vor, dass sich Ihre | |
Stadt plötzlich in eine Todeszone verwandelt. Stellen Sie sich vor, Sie | |
hätten Angst, Ihre Kinder in die Schule zu schicken. Angst, zur Arbeit zu | |
fahren und zurück nach Hause. Angst, die einfachsten Dinge zu erledigen. | |
Stellen Sie sich vor, wie es wäre, wenn Ihre freundlichen Nachbarn | |
plötzlich zu Feinden würden.“ | |
Details der politischen Verwicklungen bleiben in diesem Buch merkwürdig | |
außen vor, es scheint, als wolle Tima Kurdi nicht Stellung beziehen. Der | |
Name Assad fällt, wenn ich mich nicht irre, kein einziges Mal. | |
Lieber konzentriert sie sich auf das Leid der Flüchtenden, die haltlosen | |
Zustände, die zum Heulen sind. Ihre Geschwister [3][fliehen vor den | |
Bombardements und vor den Kämpfern des „Islamischen Staates]“ in die | |
Türkei, leben von der Hand in den Mund und wissen nicht, wohin. Ihre | |
Schwester versucht derweil alles Menschenmögliche, um sie zu sich nach | |
Kanada zu holen, doch die Mühlen der Bürokratie mahlen zäh. Aber es gibt | |
Lichtblicke: wenn Menschen Mitleid haben und sich erbarmen. Die Schleuser | |
indes machen nur ihren Job. | |
## Wiederholte Fluchtversuche | |
Wiederholt versucht Timas Bruder Abdullah, mit seiner Frau und seinen | |
beiden kleinen Söhnen das Meer zu überqueren, um nach Griechenland zu | |
kommen. Die Schilderung dieser Flucht liest sich zuweilen so atemberaubend | |
wie ein Thriller. Die Spannung steigt auch dadurch, dass es keiner ist. | |
Vieles hat Kurdi recherchiert, ihren Bruder, den einzigen Überlebenden des | |
Fluchtversuchs, oft gelöchert, anderes überlässt sie ihrer Fantasie. | |
Wie nicht anders zu erwarten, ist „Der Junge am Strand“ ein erschütterndes | |
Buch geworden. Es erzählt davon, was passiert, wenn man die Würde des | |
Menschen missachtet. Seine schockhafte Wirkung rührt auch von den vielen | |
Fotos her, die es beinhaltet: niedliche Kinderbilder und Ansichten einer | |
sympathischen syrischen Familie. | |
Tima Kurdi ergänzt die täglichen Zeitungsmeldungen mit ihrer individuellen | |
Geschichte, gibt dem Strom der Flüchtenden ein Gesicht. Verlorengegangene | |
Pässe erweisen sich bei ihr als schicksalhafter Verlust, Familiennachzug | |
als ein Menschenrecht. | |
Ihr soghaftes Buch ist ein Plädoyer für den Flüchtlingsschutz. Ein Weckruf, | |
der ebenso verhallen könnte wie die Schockwellen, die das Foto des Jungen | |
einst auslöste. | |
13 Jan 2021 | |
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## AUTOREN | |
Shirin Sojitrawalla | |
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