# taz.de -- Festnahmen nach linksextremen Drohschreiben: Das Ende der Mieze | |
> Ein Stuttgarter Paar soll Drohschreiben an PolitikerInnen verschickt | |
> haben. Ihre Biographie überrascht: Sie waren Teil der ÖDP, traten im | |
> Internet offen auf. | |
Bild: Brandanschlag der RAZ auf die Berliner Senatsverwaltung für Stadtentwick… | |
STUTTGART/BERLIN taz | Guido Klamt ist noch immer fassungslos. „Die | |
Nachricht hat mir den Boden unter den Füßen weggezogen“, sagt der | |
baden-württembergische Landeschef der Ökologisch-Demokratischen Partei | |
(ÖDP). Seine beiden ParteikollegInnen seien immer nett und hilfsbereit | |
gewesen. Mit Stefanie C. (Name geändert*) habe er sogar mal über | |
extremistische Gewalt gesprochen, erinnert sich Klamt. „Wir waren einer | |
Meinung, dass die ÖDP damit nichts zu tun hat.“ | |
Die Staatsanwaltschaft Stuttgart hat ein anderes Bild von Stefanie C. und | |
ihrem Partner Dirk R.. Am Freitag ließ sie die 39-Jährige und den | |
38-Jährigen [1][in einer Berliner Wohnung festnehmen], gleichzeitig wurden | |
drei Wohnungen in Stuttgart durchsucht. ErmittlerInnen rückten auch beim | |
Bezirksrathaus Bad Cannstatt an. Der Vorwurf: Das Paar soll unter dem Alias | |
„MIlitantE ZellE (Mieze)“ dutzende linksextreme Drohschreiben an | |
MinisterInnen, PolitikerInnen oder Behörden verschickt haben, teils mit | |
beigelegten Platzpatronen, Messern oder Grillanzündern. | |
Dazu kommt ein versuchter Brandanschlag auf die Bundesagentur für Arbeit in | |
Nürnberg am 2. August. Der Brandsatz zündete nicht richtig, es entstand | |
kein größerer Schaden. Auch sollen die Festgenommenen Ende August einen | |
unangezündeten Brandsatz vor das Haus von Fleischfabrikant Clemens Tönnies | |
im Landkreis Gütersloh gelegt haben. | |
## Drohschreiben mit RAF-Referenz | |
Die Serie begann Ende Dezember 2019 mit Briefen samt Reizstoffpatronen an | |
die umweltpolitischen SprecherInnen der Bundestagsfraktionen. Da sie nichts | |
gegen „Ausbeutung, Faschismus, Gentrifizierung, Ignoranz gegenüber | |
Klimaprobleme“ täten, sei dies eine „Warnung“, hieß es darin. Zitiert w… | |
auch der frühere RAF-Terrorist Holger Meins, „unser verstorbener Genosse“, | |
mit den Worten: „Entweder du bist Lösung, oder Problem.“ | |
Danach folgten vier weitere Wellen von Schreiben unter anderem an | |
Baden-Württembergs Ministerpräsident Winfried Kretschmann oder | |
Bundesinnenminister Horst Seehofer. Der letzte Schwung erfolgte laut | |
Spiegel im Oktober, diesmal mit Schreiben an Nahverkehrsunternehmen in | |
Stuttgart, Berlin und Köln, in denen gefordert wurde, Schwarzfahrer nicht | |
mehr zu bestrafen. | |
Die Verfasser knüpften mit ihren Schreiben explizit an eine Drohserie an, | |
die bereits ab 2009 unter dem Alias [2][„Revolutionäre Aktionszellen“ | |
(RAZ]) verübt wurde. Auch damals wurden Schreiben mit Patronen an | |
PolitikerInnen verschickt, darunter an den damaligen Bundesinnenminister | |
Hans-Peter Friedrich – als Teil des „sozial-revolutionären Widerstandes“ | |
oder als erklärte Antwort auf „Repressionsschläge“ durch den Staat. Zudem | |
bekannte sich die Gruppe zu Brandanschlägen mit Gaskartuschen in Berlin und | |
Göttingen, auf Gerichte oder das Bundesverwaltungsamt. Die Aktionen endeten | |
2011. Die „Mieze“-VerfasserInnen erklärten in ihrem ersten | |
Bekennerschreiben nun die „kreative Pause“ der RAZ für beendet und | |
benannten sich als Handelnde „im Kollektiv“ mit der Gruppe. | |
## Bundesanwaltschaft sieht keine weiteren Täter | |
Zu der ersten RAZ-Drohserie ermittelt die Bundesanwaltschaft bereits seit | |
Jahren erfolglos, [3][trotz einer größeren Razzia 2013]. Auch zu den neuen | |
Schreiben übernahm die Behörde zunächst die Ermittlungen. Nach | |
taz-Informationen kamen die ErmittlerInnen Stefanie C. und Dirk R. wegen | |
Videoaufnahmen am Tatort in Nürnberg und DNA-Spuren an Drohschreiben und | |
einem der Brandsätze auf die Spur. Weitere MittäterInnen sieht die | |
Bundesanwaltschaft jedoch nicht und damit auch keine terroristische | |
Vereinigung, wie anfangs vermutet. Sie übergab die Ermittlungen deshalb | |
kurz vor den Festnahmen der Stuttgarter Staatsanwaltschaft. Die Vorwürfe | |
lauten nun auf versuchte Nötigung und versuchte Brandstiftung. | |
Die Union beglückwünschte die ErmittlerInnen. „Die Festnahmen zeigen: Der | |
Linksextremismus in unserem Land wird radikaler“, erklärte CDU-Innenexperte | |
Thorsten Frei. Der Rechtsstaat müsse darauf „eine starke Antwort“ geben. | |
Aber es bleiben Fragezeichen, nicht nur für die ÖDP. Noch am Freitagabend | |
verschickte die Partei eine Erklärung, in der sie einräumte, dass die | |
beiden Festgenommenen Mitglieder der ÖDP seien. Das Paar sei aber nie durch | |
Gewalt oder entsprechende Aufrufe aufgefallen. „Beides wird in der ÖDP auf | |
keinen Fall toleriert.“ Bundeschef Christian Rechholz äußerte sich | |
„entsetzt über die Gefahren, denen betroffene Politiker und | |
Behördenmitarbeiter ausgesetzt waren“. Die Parteimitgliedschaft der | |
Festgenommenen ruhe nun. Bestätige sich der Tatverdacht, erfolge der | |
sofortige Ausschluss. | |
Aber klar scheint auch: Zum harten Kern klandestin-militanter Autonomer | |
gehören die Festgenommenen wohl nicht. Und auch ob sie mit den ersten | |
RAZ-Aktionen zu tun haben, ist sehr fraglich. | |
## Aktives Engagement in der ÖDP | |
Ein Engagement dieses Klientels in der ÖDP war bisher jedenfalls nicht | |
bekannt. Und die Festgenommenen waren in der Partei keine Mitläufer: Dirk | |
R. saß in Stuttgart im Bezirksbeirat Bad Cannstadt, Stefanie C. ließ sich | |
im Sommer gar in den Landesvorstand der ÖDP wählen. Beide arbeiteten als | |
Kundenbetreuer im Personenverkehr, pflegten offene Facebookprofile. Dirk R. | |
veröffentlichte vor zwei Jahren unter vollem Namen Berichte, wie er sich an | |
den Protesten im Hambacher Forst beteiligte. | |
Auch die Stuttgarter Staatsanwaltschaft erklärt, dass das Paar bisher nicht | |
als LinksextremistInnen aufgefallen sei. Offenbar auch nicht in Verbindung | |
zur ersten RAZ-Serie. Tatsächlich unterscheiden sich die damaligen | |
Schreiben im Duktus von den jüngsten der „Mieze“. Auch erfolgten diesmal | |
weit mehr Briefe in vergleichsweise kurzer Zeit, teils auch an ein anderes | |
AdressatInnenspektrum, nun verstärkt aus dem Umweltbereich. Und: Die ersten | |
Täter agierten weit professioneller, hinterließen keine Spuren bei ihren | |
Taten. | |
Verfassungsschutzpräsident Thomas Haldenwang warnte zuletzt bereits vor | |
einer neuen Radikalisierung im Linksextremismus. Vor allem in Leipzig, | |
Berlin und Hamburg werde linke Gewalt „enthemmter“, direkte Angriffe auf | |
Personen seien in der Szene kein Tabu mehr. Jedoch: Festnahmen gelingen der | |
Polizei fast nie. Nur in Baden-Württemberg verhafteten sie zuletzt einen | |
21-Jährigen nach einem Angriff auf einen rechten Gewerkschafter. In Sachsen | |
wurden zwei Männer nach einem Brandanschlag in Rodewisch festgenommen. Die | |
Beweislage ist [4][hier aber wackelig]. | |
## „Ein bisschen spinnert“ | |
Auf die nun erfolgten Festnahmen der Stuttgarter reagierte deren Umfeld | |
überrascht. „Unerklärlich“ sei der Fall, das Paar sei nicht negativ | |
aufgefallen, hieß es aus der Stuttgarter ÖDP. Ein Mitglied aus der Fraktion | |
verschiedener linker Parteien im Bezirksbeirat, in dem Dirk R. saß, sagte, | |
der 38-Jährige sei ihm zwar „schon ein bisschen spinnert“ vorgekommen, | |
solche Taten hätte er ihm aber nicht zugetraut. Er selbst habe Dirk R. aber | |
seit Monaten nicht mehr in der Fraktion gesehen. Man habe deshalb seinen | |
Rückzug gewollt, R. aber nicht mehr erreicht. | |
Laut Stuttgarter Staatsanwaltschaft waren Dirk R. und Stefanie C. zuletzt | |
ohne festen Wohnsitz. Zumindest Stefanie C. aber schrieb noch bis in den | |
Oktober hinein auf ihrem Facebookprofil, kritisierte dort die Stuttgarter | |
Grünen für ihre Wohnungspolitik oder rief zu einer Kundgebung gegen SUVs | |
auf. Zuletzt erschien im Internet von einer Person gleichen Namens auch ein | |
„Augenzeugenbericht“ zu den Berliner Protesten gegen die Räumung des | |
Hausprojekts Liebig 34. Sie habe dort mit ihrem Verlobten teilgenommen und | |
„provozierende Bullen“ erlebt, schreibt die Autorin. Die „Linksextremiste… | |
seien dagegen „nicht einfach so gewaltbereit“ gewesen. | |
Ein solcher Beitrag mit voller Namensnennung entspricht indes ebenfalls | |
nicht dem sonstigen Vorgehen verschwiegener Autonomer. Tatsächlich blieb in | |
der linken Szene nach den Festnahmen am Freitag vorerst Solidarität aus. | |
Dort reagierte man mit: Schweigen. | |
*Name geändert, der Redaktion bekannt | |
31 Oct 2020 | |
## LINKS | |
[1] /Drohschreiben-gegen-Politiker/!5724858 | |
[2] /Linksmilitante-Drohung/!5123886 | |
[3] /Kritik-nach-Razzien/!5066814 | |
[4] /Anschlagsserie-in-Sachsen/!5710040 | |
## AUTOREN | |
Konrad Litschko | |
## TAGS | |
Schwerpunkt Antifa | |
Autonome | |
Stuttgart | |
Linksextremismus | |
Drohbriefe | |
Bundesanwaltschaft | |
Schwerpunkt Antifa | |
Drohbriefe | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Nach Angriff auf Rechtsextreme: Autonome in Leipzig festgenommen | |
Die Bundesanwaltschaft durchsucht drei Leipziger Linksradikale und nimmt | |
eine Frau fest. Sie sollen eine rechte Kneipe überfallen haben. | |
Drohschreiben gegen Politiker: Verdächtiges Paar gefasst | |
Sie sollen Drohschreiben verschickt und einen Brandsatz vor der Villa von | |
Clemens Tönnies abgelegt haben. Nun ist ein Paar in Berlin verhaftet | |
worden. | |
Linksmilitante Drohung: Friedrich kriegt Kugel per Post | |
Der neue Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich (CSU) erhält eine Sendung | |
mit einer Patrone zugeschickt. Eine linksmilitante Gruppe bekennt sich zu | |
der Drohung. | |
RAZ veröffentlicht Bekennerschreiben: Brandanschlag auf Bundesamt | |
Die RAZ melden sich zurück - mit einem Brandanschlag auf das | |
Bundesverwaltungsamt in der Bundesallee. |