| # taz.de -- Urteil zu Abtreibungen in Polen: Hauptsache, gebären | |
| > Das polnische Verfassungsgericht hat Schwangerschaftsabbrüche bei kranken | |
| > Föten verboten. Das Urteil kommt einem Abtreibungsverbot gleich. | |
| Bild: Protest in roten Handmaid's Tale Roben am Donnerstag in Łódź | |
| „Gebären auf Teufel komm raus!“ So lässt sich, etwas salopp ausgedrückt, | |
| das Urteil des polnischen Verfassungsgerichts von Donnerstag | |
| zusammenfassen. Unter der Ägide der Vorsitzenden Julia Przylebska, | |
| [1][einer engen Vertrauten von Jarosław Kaczyński, dem Chef der | |
| Regierungspartei „Recht und Gerechtigkeit“ (PiS)], befand eine Mehrheit der | |
| Richter*innen, dass Abtreibungen aufgrund von schweren angeborenen | |
| Fehlbildungen des Fötus gegen das Grundgesetz verstoßen. | |
| Dass das Votum für diese Gesetzesverschärfung mit der Stimmenmehrheit von | |
| 13 zu 2 Stimmen erging, lässt zwar den erfreulichen Schluss zu, dass | |
| beileibe nicht alle Verfassungshüter*innen Frauenrechte für eine komplett | |
| zu vernachlässigende Kategorie halten. Doch unter dem Strich bleibt, dass | |
| dieses Verdikt einem totalen Abtreibungsverbot gleichkommt. 2019 wurden in | |
| Polen 1.100 legale Schwangerschaftsabbrüche durchgeführt – 1.074 davon | |
| wegen Schädigungen des Ungeborenen. | |
| Ihr Bauch gehört den Pol*innen allerdings schon lange nicht mehr. Und die | |
| liberale Praxis zu realsozialistischen Zeiten, als Abtreibungen quasi als | |
| eine Art Geburtenkontrolle praktiziert wurden, dürften jüngere Frauen nur | |
| noch vom Hörensagen kennen. | |
| Bereits 1993 wurde, auch unter dem Einfluss der katholischen Kirche, ein | |
| restriktiver „Abtreibungskompromiss“ gezimmert, der jedoch keins der | |
| politischen Lager zufrieden stellte. Erstaunlicherweise trat Jarosław | |
| Kaczyński während seiner ersten Amtszeit als Regierungschef (2005 bis 2007) | |
| in Sachen Verschärfung des Gesetzes auf die Bremse. | |
| ## Abtreibung als Existenzfrage | |
| Doch diese vornehme Zurückhaltung war ab 2016 Geschichte. Seitdem ist ein | |
| veritabler Kampf um eine Neugestaltung des Abtreibungsrechts entbrannt. Für | |
| die nationalpopulistische PiS ist dieses Thema zu einer Existenzfrage | |
| geworden, desgleichen aber auch für viele Frauen. Zu Tausenden gehen sie | |
| seit Jahren immer wieder auf die Straße, weil sie schlichtweg nicht | |
| einsehen, dass in ihren Körper hineinregiert wird. | |
| Für die PiS als Verteidigerin der polnischen Nation hingegen gilt die | |
| Maxime: „Familie über alles!“ Diese hat allerdings ausschließlich nach | |
| ihren Regeln zu funktionieren. Genau aus diesem Grund [2][setzen auch | |
| Angehörige sexueller Minderheiten Leib und Leben aufs Spiel,] sollten sie | |
| es wagen, „LGBTQ-freie Zonen“ zu betreten. | |
| Und genau aus diesem Grund machen sich einige [3][polnische Politiker jetzt | |
| auch anheischig, Hand an die Istanbuler Konvention zu legen]. Diese ist für | |
| sie, da sie das Geschlecht als soziale Rollenzuschreibung definiert, | |
| ohnehin ein Werk des Teufels. Und überhaupt: Gewalt in der Familie oder in | |
| der Partnerschaft? Ein wenig Züchtigung hat ja schließlich noch keinem | |
| geschadet, so die Mentalität. | |
| Dass die PiS ihren stockkonservativen Kurs so knallhart durchziehen kann, | |
| der sogar Papst Franziskus noch als progressiven Reformer dastehen lässt, | |
| ist auch dem Umstand geschuldet, dass ein Großteil der Richter*innen durch | |
| entsprechende Gesetzesänderungen zu Erfüllungsgehilfen der PiS degradiert | |
| worden ist. Die „Aushöhlung des Rechtsstaats“, die die grüne | |
| Vize-Parteichefin Ricarda Lang jetzt ob des jüngsten Urteils kritisiert, | |
| ist so richtig wie wohlfeil. Lang fordert die Bundesregierung als Inhaberin | |
| der EU-Ratspräsidentschaft deshalb zum Handeln auf. | |
| Brüssel beißt sich schon seit Jahren an Polen die Zähne aus – wohl wissend, | |
| dass das famose Rechtsstaatsverfahren nach Artikel 7 als | |
| Disziplinierungsinstrument bislang ins Leere läuft. | |
| Und die polnischen Frauen? Viele von ihnen werden, wie bisher schon, ins | |
| Ausland reisen, um einen Schwangerschaftsabbruch vornehmen zu lassen. 2016 | |
| wollte Bartosz Wieliński, Journalist der Gazeta Wyborcza, in einem | |
| Gastbetrag für den Blog „ruhrbarone“ wissen, ob die PiS-Politiker *innen | |
| wirklich wollten, dass die Ärzte von Alexander Lukaschenko sich bereichern. | |
| Diese Frage ist aktueller denn je. Einmal abgesehen davon, dass der | |
| belarussische Präsident wegen anhaltender Proteste vielleicht schon bald | |
| Geschichte sein könnte. | |
| 23 Oct 2020 | |
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| ## AUTOREN | |
| Barbara Oertel | |
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