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# taz.de -- Netflix-Serie über Schachgenie: Faszination des Wahnsinns
> Die neue Netflixserie „Das Damengambit“ erzählt von einem Mädchen, das
> alle Schachmatt legt. Es ist der heimliche Hit dieses Pandemieherbsts.
Bild: Große Kitchshow: eine Szene aus der Netflixserie „Das Damengambit“
Die Welt schwärmt von einem neuen Wunderkind des Schachs. Es ist ein
rothaariges Mädchen, das in einem Waisenhaus aufwächst. Neun Jahre ist sie
alt, als ihr der Hausmeister das Schachspielen beibringt. Schnell ist sie
besser als ihr Lehrer. Besonders gut spielt sie, wenn sie die
Beruhigungstabletten genommen hat, die den Mädchen verabreicht werden,
damit es im Schlafsaal schön ruhig bleibt. Vor den halbwachen Augen des
Kindes baut sich dann unter der Decke des Schlafsaals ein Schachbrett auf
und die Figuren wandern über die Felder. Genie trifft auf Wahnsinn.
Aus dieser Mischung ist der Stoff, der eine Netflix-Serie über eine
Schachspielerin zum heimlichen Hit dieses Pandemieherbsts gemacht hat.
[1][„Das Damengambit“ heißt die Geschichte] vom genialen Mädchen, das sei…
Drogen- und Alkoholsucht überwindet, um am Ende in Moskau den sowjetischen
Weltmeister zu schlagen. Die Serie, deren Endspiel im Jahre 1968
stattfindet, ist eine große Kitschshow mit bunten Bildern und todschicken
Klamotten, jeder Menge Schicksalschläge, Sex, Drogen und einem so
schmalzigen Happy End, dass es kaum auszuhalten ist.
Da stört es nicht weiter, dass wirklich viel von Schach die Rede ist, von
Eröffnungen, vom Endspiel, von legendären Partien eines Alexander Aljechin
in den 1920er und 1930er Jahren. Damengambit? Das ist eine
Eröffnungsvariante, bei der es laut Wikipedia das Ziel ist, „den weißen
c-Bauern gegen den etwas stärkeren schwarzen d-Bauern zu tauschen und sich
mit nachfolgendem e2–e4 eine Bauernmajorität im Zentrum zu verschaffen, die
als günstig gilt“. Egal. Das muss man nicht verstehen, wenn man den
Siegeszug der kulleräugigen Schachschönheit gegen meist mittelalte Männner
verfolgt.
Von Schach muss man wirklich nichts verstehen, um sich von der Geschichte
wahrer Wunderkinder dieses Sports in den Bann ziehen zu lassen. Da war etwa
Samuel Reshevsky, der eines der berühmtesten Bilder der Schachgeschichte
geliefert hat. Da steht im Jahre 1920 ein kleiner Bub im Matrosenanzug vor
den Brettern, die für eine Simultanveranstaltung nebeneinander aufgebaut
wurden, und wird von seinen bejahrten Gegnern angestaunt. Der Junge aus der
Nähe von Łódź, der bald eine lukrative Welttournee absolviert, soll kaum
des Lesens fähig gewesen sein und wusste auch sonst wenig von dem, was
andere Kinder in der Schule lernten.
## Eine Partie Schach im Gehirn
Dieser Bub aus einfachsten Verhältnissen, der es zum Großmeister brachte,
ist wohl Inspiration für Stefan Zweig gewesen. In seinem Werk
„Schachnovelle“ ist der Schachweltmeister Mirko Czentovic ein ungebildeter
Analphabet, der nicht beherrschte, was andere Schachspieler auszeichnet:
ganze Partien vor dem geistigen Auge ablaufen zu lassen.
Er verliert in der Schachnovelle ein Spiel gegen einen Anwalt, der sich in
zermürbender Nazihaft nur dadurch wach halten konnte, dass er sein Gehirn
in zwei Hälften aufteilte und so echte Schachduelle zwischen Weiß und
Schwarz in seinem Kopf ablaufen ließ. Der Wahnsinn machte sich breit in
seinem Gehirn, der Wahnsinn, der den unkundigen Beobachter am Schach oft am
meisten fasziniert.
Kein Wunder, dass sich bis heute viele fragen, wie es wohl im Kopf [2][des
unvergessenen Weltmeisters Bobby Fischer] ausgesehen hat. Dass der nur zwei
Jahre nach seinem WM-Triumph gegen Boris Spasski jahrzehntelang regelrecht
untertauchte, bisweilen krude Verschwörungserzählungen verbreitet und auch
mal Briefe an Osama bin Laden geschrieben hat, machte ihn umso
interessanter.
Begonnen hat seine Geschichte 1956 in New York, als er sich bei einem
Turnier eine Partie mit seinem Landsmann Donald Byrne lieferte, die derart
spektakulär war, dass in der ganzen Welt darüber berichtet wurde. Fischer
war damals 13 Jahre alt. Und weil wir gerade wieder beim Thema Wunderkind
sind: Gewonnen hat jenes Turnier in New York ein gewisser Samuel Reshevsky.
Verrückt!
5 Nov 2020
## LINKS
[1] https://www.netflix.com/de/title/80234304
[2] /Schachweltmeister-Bobby-Fischer/!5559343
## AUTOREN
Andreas Rüttenauer
## TAGS
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