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# taz.de -- Mythisches Schachduell: Damengambit und Herrenwahn
> Vor 50 Jahren spielten Boris Spasski und Bobby Fischer um den
> Weltmeisterschafts-Titel im Schach. Der Fight in Reykjavík wurde zur
> Legende.
Bild: The Brain: Bobby Fischer brütet in Reykjavík über einer Stellung
Fast auf den Tag genau vor 50 Jahren trank Boris Spasski einen Orangensaft.
Danach fühlte sich der Schach-Weltmeister aus der Sowjetunion nicht gut.
Eine unerklärliche Lethargie befiel den eigentlich recht kreglen
Leningrader. Seine Entourage war besorgt, und man kam schließlich überein,
den Saft toxikologisch in Moskau untersuchen zu lassen.
Dabei kam nichts heraus, und doch illustriert diese kurze Episode, in
welchem Klima der Paranoia und des Verdachts [1][die
Schach-Weltmeisterschaft 1972] ausgespielt wurde, zwischen dem 35-jährigen
Titelverteidiger, der die Dominanz des russischen Schachs nach dem Zweiten
Weltkrieg fortzuschreiben hatte – und dem US-Amerikaner Bobby Fischer, 29,
der vom Life-Magazin als „The Brain“ oder „The Deadly Gamesman“ beschri…
wurde.
Dieses Duell, das im beschaulichen, gastfreundlichen Island ausgetragen
wurde, machte Schach als Mediensport zum ersten Mal groß. Man beschrieb es
als „Match des Jahrhunderts“, der damalige Präsident des isländischen
Schachverbands, [2][Gudmundur G. Thorarinsson], der jetzt pünktlich zum
Jubiläum ein weiteres Buch zum Themenkomplex Spasski – Fischer aufgelegt
hat, spricht ehrfürchtig vom „Match of All Time“. Interessierte mögen je
nach Perspektive ein Adjektiv ihrer Wahl einfügen: das größte, das
verrückteste, das bizzarste oder merkwürdigste Match aller Zeiten.
Das Turnier, das im Juli 1972 auf der Insel im Nordatlantik holprig mit der
Abwesenheit des kauzigen Genies aus Brooklyn begann und nach mehreren
Wochen der Scharmützel mit einem Dinner endete, auf dem Bobby Fischer sogar
getanzt und gescherzt haben soll, wurde schon im Vorfeld auf teilweise
absurde Weise politisiert und in den Frontverlauf des Kalten Kriegs
integriert. Die Blöcke schienen sich Anfang der 70er Jahre zwar mit
Abrüstungsverhandlungen und gegenseitigen Besuchen anzunähern, aber eine
vermeintliche Entspannung nach außen war begleitet von einer zunehmenden
Repression und Agitprop nach innen.
## Unsicherer Kantonist
Der parteilose Spasski, russischer Nationalist, versuchte stets, dem harten
ideologischen Zugriff des sowjetischen Sportkomitees und des
Zentralkomitees der KPdSU zu entkommen, er galt als unsicherer Kantonist,
der bisweilen mit einem „nicht gefestigten Klassenstandpunkt“ auffiel, doch
auch er flog natürlich im Parteiauftrag nach Reykjavík, in Begleitung der
Großmeister Efim Geller, Nikolai Krogius und Iivo Nei, der sich in erster
Linie um Spasskis Fitness kümmern sollte.
Namenslos blieben zahlreiche Agenten des KGB, die das Gleichgewicht der
Kräfte mit den Amis zu halten beabsichtigten, denn etliche FBI- und
CIA-Beamte dürften sich auf dem US-Stützpunkt Keflavík aufgehalten haben,
wohin Bobby Fischer zwischen den Partien häufig fuhr, um zu bowlen oder ein
großes Steak (mit einem Glas Milch) zu verzehren.
Island erschien weit weg von den konfrontativen Weltläufen, gänzlich
neutral war es nicht. Dass die Wahl der Sowjets und Fischers dennoch auf
Island fiel, war der einzigartigen geografischen Lage der Vulkaninsel auf
dem mittelatlantischen Rücken geschuldet, in Äquidistanz zur Sowjetunion
und zu den USA. Anfangs war auch noch Jugoslawien mit Belgrad im Rennen.
Die WM sollte an zwei Orten stattfinden, aber die Jugoslawen sprangen ab,
und [3][Reykjavík gewann mit seinem Preisgeldangebot von 125.000 Dollar]
das Wettbieten – eine beträchtlichen Summe, bedenkt man, dass Spasski 1969
nach seinem WM-Sieg gegen Tigran Petrosjan nur 1.400 Dollar erhielt.
Es versteht sich von selbst, dass Fischer mit dieser Summe nicht zufrieden
war. Der jüdische Bursche aus New York hatte sich früh in seiner Karriere
einen Ruf wie Donnerhall erworben, er galt als genialischer Schachspieler,
in autistischer Symbiose verwachsen mit seinem Brett, aber so sehr man
seine Einzigartigkeit als Denksportler schätzte, später mythologisch
überhöhte, so sehr fürchteten Veranstalter und Gegner seine Launen, seine
unglaubliche Sprunghaftigkeit und Rücksichtslosigkeit.
Bobby Fischers IQ im Alter von 15 wurde mit 180 bis 187 gemessen, ein
exorbitant hoher Wert, aber seine soziale Intelligenz schien sich nur im
zweistelligen Bereich zu bewegen. So wurden während des isländischen Duells
nicht nur ständig die geopolitischen Blöcke vermessen, weitere Dichotomien
beeinflussten die Wahrnehmung der Beobachter, ohne dass sie sich diesem Sog
hätten entziehen können: der Charmeur gegen den Ruchlosen, der Pragmatische
gegen den Hyperempfindlichen, der Freundliche gegen den Ichling, der
mehrfach Verheiratete gegen den Hagestolz, der Unideologische gegen den
religiös Verblendeten.
## Messias kommt nicht
Fischer war bis 1975 Mitglied der [4][Worldwide Church of God], einer
evangelikalen Sekte, die wöchentlich den Sabbat feierte und für ihn nicht
mehr attraktiv war, als sich die angekündigte Ankunft des Heilands auf
wundersame Weise verzögerte. Wenn Bobby Fischer nicht nur für sich, sondern
auch für sein Land gegen die bösen Sowjets spielte, dann erschien das Land
der unbegrenzte Möglichkeit doch sehr unsympathisch und verbohrt, was auch
Kommentatoren der New York Times und der Washington Post mitbekamen.
Sie waren teilweise peinlich berührt vom schofeligen Auftreten Fischers.
Und seine Liste der Zumutungen ist wahrlich lang: Er blieb der WM-Eröffnung
fern, und Gudmundur Thorarinsson war schon drauf und dran, das Turnier
abzusagen, als er sich auf dem Weg zum Podium doch eines Besseren besann;
Fischer stieg erst in ein Flugzeug, als der englische Millionär Jim
Slater das Preisgeld aufstockte, er erschien nicht zur zweiten Partie,
[5][kam generell immer zu spät], stellte über seine Anwälte oder den
Vizepräsidenten des US-amerikanischen Schachverbands, Fred Cramer, nonstop
Forderungen.
Einmal war das Licht im Saal der Austragungsstätte Laugardalshöllin zu
grell, dann die Kameras oder die Kinder zu laut. Nun störten die Kameras
generell, und es musste in einem Hinterzimmer gespielt werden. Dann wollte
Fischer den Pool im Hotel Loftleidir für sich allein, weil andere Gäste ihn
für einen Angestellten gehalten hatten. Die Vierecke des Schachbretts
sollten von 2 1/4 auf 2 1/8 Inches verkleinert werden, das Material taugte
ihm nicht. Die Filmrechte für den Veranstaltungsort sollten in den Besitz
von Fischer übergehen. So ging es in einem fort weiter. Die Dreistigkeit
des Fischer-Lagers war grenzenlos, und es kann sich nur um einen Scherz
gehandelt haben, als Fischer einem Reporter der Washington Post sagte, er
glaube nicht an Psychologie, sondern nur an gute Züge.
Bobby Fischers Idiosynkrasien zermürbten langsam auch das sowjetische
Lager, zumal der Ami immer besser in Form kam. Nach der sechsten Partie
hatte Fischer bereits die Führung übernommen, und die Sowjets hatten nun
ein wenig Angst davor, dass Fischer Spasski überrollen könnte. Gänzlich
unbegründet war das nicht, denn im Vorfeld, während der Kandidatenturniere,
hatte Fischer wahrlich Erstaunliches geleistet: Er gewann im Viertelfinale
6:0 gegen den Russen Mark Taimanow, Fischer gewann 6:0 gegen den Dänen Bent
Larsen und er siegte gegen Tigran Petrosjan mit 6,5:2,5.
Unter Anrechnung der sieben Abschlusssiege eines Turniers in Palma de
Mallorca und des Siegs in der ersten Partie gegen Petrosjan gelangen Bobby
Fischer zwanzig Siege hintereinander in Turnierpartien – eine seither nie
mehr erreichte Serie. Bedenkt man, dass seit 1948 nur Sowjets wie Michail
Botwinnik, Wassili Smyslow, Michail Tal, Tigran Petrosjan und eben Boris
Spasski auf den Schachthron gestiegen waren, war die Unruhe unter den
Funktionären in Moskau und Reykjavík verständlich, zumal sie der Meinung
waren, Spasski habe sich nicht richtig auf die Weltmeisterschaft
vorbereitet.
Als die Felle davon zu schwimmen drohten, beklagte sich Efim Geller
bitterlich in einem Brief über die Anwendung „schachfremder Mittel“ durch
die Amis. Man spekulierte insgeheim über Hypnose, Telepathie, manipuliertes
Essen, das Stöbern in Unterlagen auf den Hotelzimmern und dergleichen mehr.
Geller schrieb taktisch ungeschickt, dass er Spasski schon lange kenne „und
hier in seinem Spiel zum ersten Mal ein derart ungewöhnliches Nachlassen
der Konzentration und einen deutlichen Hang zur Unbedachtheit feststelle“.
Er forderte die Untersuchung von Gegenständen im Saal. Tatsächlich wurden
die in den USA gefertigten Sessel der beiden Kontrahenten geröntgt, und in
einer ersten Aufnahme, so beschreibt es Thorarinsson, fand man in Spasskis
Sitzmöbel etwas Metallisches, in einer zweiten aber nichts Auffälliges
mehr. Es soll sich lediglich um Füllmaterial gehandelt haben, aber der
Röntgenvorfall taugte als ein weiterer Beleg dafür, wie sehr das
Unternehmen Schach-WM zwischen Genie und Wahnsinn hin und her oszillierte.
Der Langmut der Isländer und des Hauptschiedsrichters Lothar Schmid aus
Deutschland wirkten wie ein Antidot gegen die Labilität der Duellanten und
ihrer Einflüsterer. Bobby Fischer gewann das „Match of All Time“ mit
12,5:8,5, tauchte dann aber ab in einen Nebel aus Verschwörung und
Desorientierung, aus dem er 2005 wieder auftauchte – in Island. [6][Er
starb auf der Insel seines größten Triumphs].
20 Aug 2022
## LINKS
[1] https://de.wikipedia.org/wiki/Schachweltmeisterschaft_1972
[2] https://www.euroschach.de/gudmundur-thorarinsson-the-match-of-all-time.html
[3] https://www.youtube.com/watch?v=NcA_WKHNsos
[4] https://de.wikipedia.org/wiki/Weltweite_Kirche_Gottes
[5] https://www.youtube.com/watch?v=L8MlGHJKAuM
[6] http://www.fischersetur.is/index.cfm?lang=en&page=pages%2Fstart_en3
## AUTOREN
Markus Völker
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