# taz.de -- Parlamentswahl in Georgien: Für neue Verhältnisse | |
> In Georgien gilt ein neues Wahlrecht. Führt das bei der Parlamentswahl am | |
> Samstag zum Ende der ewigen Alleinherrschaft der Regierungspartei? | |
Bild: Proteste in Tiflis im Juni 2019 | |
TIFLIS taz | Für Mako Gomuri ist es eine Premiere. Zum ersten Mal wird die | |
junge Georgierin bei den Parlamentswahlen am Samstag als Wahlbeobachterin | |
im Einsatz sein. „Diese Wahl ist eine echte Chance für mich und unsere | |
Gesellschaft, aber dafür habe ich auch teuer bezahlt. Und ich will nicht, | |
dass noch andere Menschen diesen hohen Preis entrichten müssen“, sagt sie | |
Die 20-Jährige sitzt an diesem Tag im Msiuri-Park, im Zentrum der | |
georgischen Hauptstadt Tiflis. Sie kommt gerne hierher, denn dieser Park | |
ist einer der wenigen Orte, an denen sie sich sicher fühlt. | |
Am 20. Juni 2019 verlor Mako ihr linkes Auge, als sie von einem | |
Gummigeschoss getroffen wurde. Vor dem Parlament fand eine große | |
Protestkundgebung statt. Die Menschen waren in Aufruhr, weil der russische | |
Abgeordnete Sergei Gawrilow, der sich zu einem offiziellen Besuch in | |
Georgien aufhielt, auf dem Sessel des Parlamentspräsidenten Platz genommen | |
hatte. | |
Die Regierungspartei Georgischer Traum [1][des Oligarchen Bidzina | |
Iwanischwili], die seit 2012 an der Macht ist, hatte zugesichert, keine | |
Gewalt anzuwenden. Das Innenministerium antwortete den Demonstranten jedoch | |
mit Wasserwerfern, Tränengas und Gummikugeln. Mako war zufällig vor Ort. | |
Auch ein anderer Demonstrant verlor ein Auge. In dieser Nacht wurden 275 | |
Menschen verletzt, doch bis jetzt wurde niemand zur Verantwortung gezogen. | |
## Mit Wasserwerfern gegen Demonstranten | |
Am 21. Juni [2][gingen die Proteste weiter]. Die meisten Demonstranten | |
waren jünger als 35 Jahre. Eine Forderung war der Übergang zum | |
Verhältniswahlrecht. Der Georgische Traum erklärte sich dazu bereit, wurde | |
im November 2019 aber wortbrüchig. | |
Wieder zogen Tausende auf die Straßen, auch Mako war dabei. „Sie dachten, | |
dass man ihnen auch das durchgehen lassen würde, aber ich hatte die Nase | |
voll von dieser Straflosigkeit“, sagt sie. Friedliche Demonstranten wurden | |
erneut mit Wasserwerfern auseinandergetrieben. | |
Unter dem Druck der Zivilgesellschaft und internationaler Akteure einigten | |
sich die Regierung und die Opposition schließlich doch auf [3][eine Reform | |
des Wahlrechts]: 2020 finden die Wahlen nach deutschen Muster statt, 2024 | |
gilt das reine Verhältniswahlrecht. | |
Seit Georgiens Unabhängigkeit von der Sowjetunion 1991 hatte jede | |
Regierungspartei ständig die alleinige Herrschaft inne. Die | |
Nichtregierungsorganisation Freedom House spricht von einer „defekten | |
Demokratie“. In Georgien glauben jetzt viele, dass dank der | |
Wahlrechtsänderung eine Einparteienregierung endlich der Vergangenheit | |
angehört. | |
Jüngsten Umfragen zufolge wird keine Partei am Samstag so viele Stimmen | |
bekommen, um allein regieren zu können. Die Chancen, dass es eine | |
Koalitionsregierung geben wird, sind so hoch wie noch nie. | |
## Stimmenkauf vor der Wahl | |
Doch die alten Probleme bestehen fort. Nichtregierungsorganisationen | |
berichten erneut von gravierenden Verstößen vor dem eigentlichen Wahltag: | |
Druck auf Wähler, Angriffe auf Vertreter der Opposition, Kauf von | |
Wählerstimmen, Einsatz von Regierungsgeldern: Hebel, der sich bisher noch | |
jede Regierungspartei bedient hat. | |
Lewan Natroschwili, Vertreter von Transparency International in Georgien, | |
meint, dass der Georgische Traum immer noch viel mehr Möglichkeiten habe, | |
als jede andere Partei. „Die staatlichen Einrichtungen sind schwach. | |
Instrumente, um die Macht zu kontrollieren, funktionieren nicht so, wie sie | |
sollten. Das gibt der Regierungspartei zusätzliche Freiheiten“, sagt er. | |
Auch [4][Corona spielt eine Rolle]. In einem Land mit 3,5 Millionen | |
Einwohnern erkranken derzeit jeden Tag 2.000 Menschen. Daher haben viele | |
internationale Organisationen, wie das NDI (National Democratic Institut) | |
ihre Beobachtermission verkürzt oder ganz abgesagt. | |
Georgiens ehemaliger Bildungsminister Gija Nodija weist jedoch noch auf ein | |
anderes Problem hin. Mit den Ressourcen, über die Iwanischwili verfüge, sei | |
es gut möglich, dass der Georgische Traum Vertreter der kleineren | |
Oppositionsparteien zu sich herüberziehen werde. „Das Vertrauen der | |
Bevölkerung in die politische Klasse hat extrem gelitten. Die | |
Standfestigkeit kleinerer Oppositionsparteien ruft in der Gesellschaft | |
ernsthafte Zweifel hervor. Daher sind diese Ängste begründet“, sagt Nodija. | |
Auf der Straße wird Mako oft erkannt. Dann suchen die Menschen das Gespräch | |
mit ihr. Viele unterstützten sie, aber einige sagen, dass Bürgerengagement | |
sinnlos sei. Die Georgier glaubten nicht mehr daran, dass ihre Stimme | |
gehört werde, meint Mako. Deshalb versuche sie, viel mit den Leuten zu | |
reden. Manchmal ziehe sie sich aber auch einfach zurück. Sie liebe bunte | |
Kleidung, trage aber oft eine schwarze Brille und eine schwarze Maske. „Da | |
ist die Chance geringer, dass ich so oft angesprochen werde.“ | |
„Wer am Samstag zu Hause bleibt, stimmt gegen Veränderungen“, sagt sie. | |
Trotz aller Probleme sei sie optimistisch. „Im Gegensatz zur Generation | |
meiner Eltern werden wir jungen Leute nicht mehr schweigen.“ | |
Aus dem Russischen von Barbara Oertel | |
31 Oct 2020 | |
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## AUTOREN | |
Sandro Gvindadze | |
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