# taz.de -- Fußballclub Union Berlin: „Freundliche Männer werden Krieger“ | |
> Autor Christoph Biermann durfte eine Spielzeit lang ganz nah ran: Für | |
> sein Buch hat er den 1. FC Union Berlin als Teil des Teams begleitet. | |
Bild: Zweikampf im Spiel 1. FC Union Berlin gegen FSV Mainz Anfang Oktober | |
taz: Herr Biermann, Ihr Buch erinnert ein wenig an die Wahlkampfbegleitung | |
des SPD-Kanzlerkandidaten Martin Schulz 2016 durch Spiegel-Autor Markus | |
Feldenkirchen. Hinterher waren alle der Meinung: Ein Coup für den Autor, | |
aber Schulz hatte sie wohl nicht alle, sein Scheitern so offen | |
dokumentieren zu lassen. Im Falle eines Abstiegs hätte Union auch ziemlich | |
dumm dastehen können, oder? | |
Christoph Biermann: Das ist hypothetisch. Union hat den Klassenerhalt | |
geschafft, und man muss sagen, dass das eine außergewöhnliche Leistung ist. | |
Der wirtschaftliche Faktor im Fußball ist letztlich doch entscheidend und | |
Union hatte nach Paderborn den zweitniedrigsten Personaletat der Liga. Als | |
Tabellenelfter haben sie sechs Vereine mit größeren Möglichkeiten hinter | |
sich gelassen. Das ist eine große Leistung von allen: Spielern, | |
Trainerteam, Sportdirektor, Vereinsführung. Ich wollte beschreiben, wie das | |
möglich wurde: vor allem durch einen außergewöhnlich guten Trainer und eine | |
Mannschaft, die es schaffte, immer Mannschaft zu bleiben, was mit so vielen | |
Spielern nicht einfach war. | |
Sie sind quasi ins Team aufgenommen worden, mussten sogar ebenso wie neue | |
Spieler vor der Mannschaft singen. Zugleich blieben Sie der professionelle | |
Beobachter. Fiel es Ihnen schwer, die nötige Distanz zu halten? | |
Nein. Da ich viel mit ihnen zu tun hatte, habe ich mir zwar ziemlich bald | |
gewünscht, dass sie erfolgreich sind, und ich habe auch mitgejubelt, wenn | |
sie gewonnen haben. Aber ich blieb der Beobachter. Ich wollte ja nicht | |
meine Emotionen beschreiben, sondern verstehen, was da passiert. Die Nähe | |
sollte mir helfen, das Funktionieren und die Atmosphäre einer | |
Fußballmannschaft zu begreifen. | |
Es ging Ihnen um das Exemplarische einer Profimannschaft? | |
Ja, unbedingt. Viel von dem, was ich bei Union beobachtet habe, hätte ich | |
sicher ähnlich auch bei Mannschaften wie Hertha oder Arminia Bielefeld | |
beobachten können, weil die Mechanismen des Berufsfußballs austauschbar | |
sind. Deshalb ist ein guter Teil dieses Buches exemplarisch für den | |
Berufsfußball in den zwanziger Jahren des 21. Jahrhunderts. | |
Welche Beobachtung hat Sie als erfahrener Fußballreporter überrascht? | |
Mir war vorher gar nicht so klar, wie gut es den Spielern tut, wenn sie | |
nach Spielen nicht ausgepfiffen werden. Das ist ja eine Union-Tradition. | |
Viele in der Mannschaft hatten das anderswo auch anders erlebt, diese | |
Sprüche: Scheißmillionäre, wir wollen euch kämpfen sehen, wir sind XY und | |
ihr nicht! Die von den Unionfans gepflegte Besonderheit gibt es in | |
Deutschland nur bei wenigen Vereinen. Das ist auch etwas, woraus eine Kraft | |
erwächst. Die meisten Spieler wissen doch selbst, wenn sie einen schlechten | |
Tag haben. Dann nicht vom Publikum niedergemacht zu werden, scheint ihnen | |
schon wichtig. | |
Sie beschreiben diese Sensibilität und verwenden zugleich für den Fußballer | |
den Begriff Krieger, was etwas überrascht, wenn man Ihre sonstigen Aufsätze | |
über Fußball kennt. | |
Ich war auch überrascht, weil ich den Begriff eigentlich für komplett | |
abgedroschen hielt. Aber er kam mir doch in den Sinn in den Momenten, als | |
die Spieler auf den Platz rausgingen und ich sie da abgeklatscht habe. In | |
dem Moment habe ich eine Verwandlung von freundlichen jungen Männern in | |
Krieger erlebt, die in eine sportliche Schlacht ziehen. Plötzlich lag eine | |
Intensität in der Luft, die man sich zwar irgendwie vorstellen kann, aber | |
wenn man hautnah erlebt, wie machtvoll die ist – das fand ich schon | |
beeindruckend. | |
Wie schwer war es, Unions Vereins- und sportliche Führung von Ihrer Idee zu | |
überzeugen, die Mannschaft eine ganze Saison dicht zu begleiten? | |
Ich hatte von meiner Idee zuerst Pressesprecher Christian Arbeit erzählt. | |
Als passionierter Leser und Literaturfreund fand er sie gleich gut. Was den | |
Ausschlag gab, dass Präsident Dirk Zingler letztlich auch dafür war, weiß | |
ich nicht genau. | |
Vielleicht die Aussicht, dass man den Verein in der Öffentlichkeit besser | |
versteht. Union macht oft sein eigenes Ding, was andernorts sowohl mit | |
Sympathie als auch mit Genervtheit betrachtet wird. | |
Ja, der Verein hat in den letzten Jahren oft sein Ding gemacht und daraus | |
auch einen Teil seiner Kraft gezogen. Union hat ein eigenes Modell | |
gefunden, auf den Fußball zu gucken und ihn als Profisport zu betreiben: | |
mit einer starken Konzentration auf das Stadionerlebnis, in der Form auch | |
deutlicher als bei vielen anderen Klubs. Das ist ja auch der erste Satz des | |
Union-Grundgesetzes: „Unser Stadionerlebnis ist der Kern unseres Daseins | |
als Unioner.“ | |
Erklärt das die umstrittene Absicht von Vereinspräsident Dirk Zingler, auch | |
unter Coronabedingungen viele [1][Zuschauer ins Stadion] zu lassen? | |
Das ist meiner Ansicht nach eindeutig die Motivation. | |
Oft ist die Rede von der Union-Familie. Haben Sie die als offen oder | |
relativ geschlossen erlebt? | |
Wenn man einen Außenstehenden hineinlässt, ist das letztlich ja maximale | |
Offenheit. Ich habe die Leute im Verein nie als verschlossen erlebt. | |
Nach dem Bundesligaaufstieg hatte Vereinspräsident Zingler gesagt, der | |
Verein wolle sich nicht verändern … | |
… stimmt, worauf ich ihm sagte: Vergessen Sie’s! | |
Hatten Sie recht? | |
Es hat sich ganz viel verändert, allein durch die größere Aufmerksamkeit | |
für den Klub, der sich nun nicht mehr so nett dahinten in Köpenick | |
versteckt halten kann. Ich finde jedoch, dass er im Kern unverändert | |
geblieben ist. | |
Wie sehr hängt das damit zusammen, dass das Jahr [2][sportlich erfolgreich] | |
war? | |
Es hat sicher eine Rolle gespielt. Aber ich glaube, dass sich selbst im | |
Falle eines Abstiegs wenig verändert hätte. Ich weiß nicht, was strukturell | |
groß hätte anders werden können. | |
Abgesehen vom Derby spielt Lokalrivale [3][Hertha BSC] im Buch keine | |
besondere Rolle. Für den Verein offenbar auch nicht, aber man erfährt, dass | |
sich Union-Präsident Zingler und Hertha-Präsident Gegenbauer offenbar | |
schätzen? | |
So hat es mir Zingler jedenfalls gesagt. Das liegt vielleicht daran, dass | |
sie beide Unternehmer sind. | |
Dirk Zingler hat nach der Wende ein Bauunternehmen gegründet und diese | |
Erfahrung scheint auch seine Art der Vereinsführung zu prägen. Zitat: „Wir | |
sind keine Erben, wir sind die erste Generation. Wir mussten uns das alles | |
selbst erarbeiten, deshalb gehen wir auch sorgsamer damit um.“ | |
Genau. Fußballvereine sind ja Unternehmen auf eine ganz spezielle Art. | |
Zingler und seine Mitstreiter haben es geschafft, Union in eine neue Zeit | |
zu führen. Dass der Verein seine eher von Niederlagen und Pleiten geprägte | |
Geschichte in den letzten 15 Jahren in eine positive Geschichte verwandeln | |
konnte, ist schon sehr bemerkenswert. Für mich ist Union auch eine große | |
Ost-West-Geschichte. | |
Wie viel Ostigkeit steckt heute noch in Union? | |
Als ich mir die Vereinsführung anguckte, fiel mir auf, wie sehr Union da | |
ein ostdeutscher Klub ist. Die meisten, die was zu sagen haben, besitzen | |
Ex-DDR-Biografien. Es hat sich in ihre Lebensgeschichte eingeschrieben, | |
dass sie sich nach der Wende beruflich neu orientieren mussten. Viele sind | |
Unternehmer geworden und beruflich erfolgreich. Im Grunde betreiben sie | |
Union wie ein besonderes Ostunternehmen. Das spüren auch die meisten | |
Zuschauer, von denen ein Großteil ähnliche biografische Erfahrungen hat. | |
Dieses Ostige schimmert oft noch durch, darin steckt symbolische Kraft und | |
für viele Menschen eine reale Anziehungskraft. | |
Stand irgendwann der Abbruch Ihrer teilnehmenden Beobachtung zur Debatte? | |
Es war verabredet, dass der Verein die Sache jederzeit abbrechen könnte, | |
und nach den ersten Saisonwochen hatte ich tatsächlich Bedenken. Es ging ja | |
ziemlich holprig los und auf den grandiosen Sieg gegen Dortmund folgten | |
drei Niederlagen hintereinander. Vorm Derby gegen Hertha konnte es schon | |
Spitz auf Knopf stehen und dann hätte es passieren können, dass der Klub | |
die Reißleine zieht, weil er zu sehr im Abstiegskampf steckt. Es kam jedoch | |
anders durch die Siege gegen Freiburg und Hertha. Die Stimmung wechselte | |
und irgendwann kam der Punkt, dass ich eher überrascht gewesen wäre, wenn | |
sie mich noch rausgeworfen hätten, selbst wenn es Probleme gegeben hätte. | |
Dass Sie nun auch noch die erste Geisterspielsaison der Liga aus der | |
Innenansicht eines Vereins beschreiben können, ist Reporterglück, oder? | |
Ich will einem so großen Unglück wie dieser Pandemie nicht auch noch was | |
Positives abgewinnen wollen. Auch ohne sie war es aber Reporterglück, eine | |
professionelle Fußballmannschaft eine ganze Saison begleiten zu können. | |
18 Oct 2020 | |
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## AUTOREN | |
Gunnar Leue | |
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erhalten. |