# taz.de -- SPD im Berliner Wahlkampf: Nicht nur auf Twitter aktiv | |
> Die Berliner Staatssekretärin Sawsan Chebli konkurriert mit dem | |
> Regierenden Bürgermeister Michael Müller um ein SPD-Bundestagsmandat. | |
> Wofür steht sie? | |
Bild: Sawsan Chebli (SPD) will in den Bundestag | |
Am 9. Oktober 2020, ein Jahr nach dem Anschlag auf die Synagoge in Halle, | |
steht Sawsan Chebli in der Schillerstraße in Berlin-Charlottenburg auf | |
einer Kundgebung gegen Antisemitismus. Die Berliner Staatssekretärin ist | |
eigentlich in Elternzeit, aber heute will sie sich solidarisch zeigen. | |
Ein Mann mit schwarzer Bikerjacke, vielleicht Mitte 50, kommt auf sie zu: | |
„Frau Chebli, eins will ich Ihnen sagen. Ich würde die SPD eigentlich | |
niemals wählen. Aber wenn Sie hier antreten, dann würde ich Sie wählen, | |
weil ich zwei Töchter habe.“ Er sagt das so, als wäre das selbsterklärend | |
und stapft wieder davon. Sawsan Chebli scheint etwas überrumpelt zu sein. | |
Dann sagt sie: „Das gibt mir Hoffnung.“ Schließlich will sie hier im | |
Wahlkreis Charlottenburg-Wilmersdorf für den Bundestag kandidieren. Nur ist | |
es so: Der Regierende Bürgermeister, Michael Müller, ebenfalls SPD, will | |
das auch. | |
Müller hätte zwar auch in seinem Heimatbezirk Tempelhof-Schöneberg antreten | |
können, aber dort hatte sich schon Juso-Chef Kevin Kühnert ins Spiel | |
gebracht. Also entschied Müller nach Charlottenburg-Wilmersdorf | |
auszuweichen – wohl in der Annahme, Chebli würde schon Platz machen. Als | |
sie sich weigerte, war der Knatsch in der Hauptstadt groß. Die einen | |
raunten, sie schade der Partei und falle dem eigenen Chef in den Rücken – | |
denn Müller machte sie 2016 zur Staatssekretärin in der Senatskanzlei. | |
[1][Andere feierten Chebli dafür], dass sie Schluss macht mit | |
Hinterzimmerpolitik und sich nicht verdrängen lässt von einem Mann. | |
„Warum soll ich als Frau den Platz räumen? Warum soll ich demütig sein?“, | |
fragt Chebli bei einem Treffen Ende September in einem Berliner Café am | |
Ku'damm. Ein kleines Grinsen kann sie sich nicht verkneifen. „Ich wohne | |
hier, engagiere mich hier in der SPD, hier ist mein Sohn geboren, hier soll | |
er groß werden“, sagt sie. Sie habe vor einem Jahr mehrfach bekannt | |
gegeben, dass sie kandidieren möchte. | |
## Nur eine Handvoll Termine gemeinsam mit Müller | |
Über Müller verliert sie kein schlechtes Wort, aber die beiden sehen sich | |
auch kaum, weil Chebli in Elternzeit ist, ihr Kind ist erst wenige Monate | |
alt. „Ich trete für meinen Bezirk an, nicht gegen Michael Müller“, sagt | |
sie. Das sei „demokratischer Wettstreit“, es gehe darum, den Wahlkreis | |
zurückzugewinnen, der bei den letzten zwei Bundestagswahlen an die CDU | |
gefallen war. | |
Von den meisten Berliner SPD-Größen ist zu dem ungewöhnlichen Wettstreit | |
kaum etwas zu hören. Vermutlich, weil alle wissen, dass interner Zoff die | |
SPD nicht aus dem 15-Prozent-Umfragetief holen wird. Kevin Kühnert sagt: | |
„Mein Eindruck ist, dass die Aufregung von außen größer ist als in der SPD | |
selbst.“ Doch die Gegensätze der beiden versprechen ein spannendes Duell: | |
Jung gegen Alt, Frau gegen Mann, Chef gegen Angestellte, Urberliner versus | |
Berlinerin mit Fluchtgeschichte. | |
Auch die Politikstile könnten nicht unterschiedlicher sein: hier der oft | |
etwas spröde wirkende Michael Müller, der exzellente Sachpolitiker, da die | |
extrovertierte Sawsan Chebli, umtriebig auf Twitter, die Inhalte meist mit | |
ihrer Biografie verknüpft. Beide Seiten haben ihre Fans, es ist unklar, wer | |
am Ende gewinnt. Nun gibt es eine Mitgliederbefragung der rund 2.500 | |
SPD-Genoss*innen in Charlottenburg-Wilmersdorf: Bis zum 27. Oktober können | |
sie abstimmen, wen sie für geeigneter halten. Das Ergebnis, das am 28. | |
Oktober bekannt gegeben werden soll, ist formal nicht bindend, wird aber | |
wahrscheinlich befolgt werden. | |
Die heiße Phase läuft, aber in der Pandemie ist es schwieriger, für sich zu | |
werben, das ärgert Chebli. Einem SPD-Beschluss zufolge gibt es nur eine | |
Handvoll Termine, bei denen Müller und Chebli sich gemeinsam vorstellen | |
dürfen. Trotzdem gibt sie sich siegessicher: „Ich stehe nicht für ein | |
Weiter-so, sondern für Aufbruch, Perspektive, für ein mutiges Deutschland, | |
das sich traut, Menschen wie mich in die vorderste Reihe zu stellen.“ Auf | |
ihrem Instagram-Profil heißt es: Sozialdemokratin und Tochter von | |
Geflüchteten. | |
Chebli schafft immer eine Verbindung zwischen Politik und Leben. „Ich bin | |
in die SPD eingetreten, weil ich nie so arm und mittellos, nie so abhängig | |
von politischen Entscheidungen anderer sein wollte wie meine Eltern. Meine | |
Biografie ist der Grund, warum ich heute da bin, wo ich bin“, sagt sie. Ihr | |
Interesse für Außenpolitik, Bildungsfragen, ihr Kampf gegen rechts – all | |
das sei damit verbunden. | |
Doch Cheblis Biografie ist Trumpf und Makel zugleich, weil ihre politischen | |
Inhalte darüber oft aus dem Fokus geraten. Es gibt Menschen, die gleich mit | |
den Augen rollen, wenn sie anfängt zu sprechen. Als Frau, gläubige Muslimin | |
und Bildungsaufsteigerin bietet sie dreifach Angriffsfläche. Regelmäßig | |
wird sie mit Hass überschüttet. Zuletzt war sie in den Schlagzeilen, weil | |
im rechtspopulistischen Magazin Tichys Einblick [2][ein sexistischer | |
Beitrag erschien], der sie aufs Übelste herabwürdigte. | |
Aber Chebli kriegt diesen Hass nicht nur von rechts ab. Wenn sie die | |
Boykottpolitik des BDS verurteilt, betiteln sie manche als | |
„Vaterlandsverräterin“, andere nehmen ihr das Engagement gegen | |
Antisemitismus nicht ab. In der Aktivistin und Auschwitz-Überlebenden | |
Esther Bejarano hat sie jedoch eine prominente Fürsprecherin: „Uns | |
verbindet der Kampf gegen rechts, gegen Rassismus und Antisemitismus. Wir | |
brauchen Menschen wie Sawsan in der Politik.“ | |
## Starke Stimme gegen rechts | |
Sawsan Chebli wird 1978 in Westberlin als zwölftes von dreizehn Kindern | |
geboren. Ihre Eltern lebten als palästinensische Flüchtlinge 20 Jahre in | |
einem libanesischen Flüchtlingslager, 1970 sucht die Familie Asyl in | |
Westberlin. Doch bis zu ihrem 15. Lebensjahr ist Chebli lediglich geduldet | |
und damit staatenlos. Ihre Eltern konnten nie eine Schule besuchen, haben | |
nie Deutsch gelernt, aber Chebli bezeichnet sie als „weise“ Menschen, die | |
verstanden haben, dass Bildung der Schlüssel zum Erfolg ist. In beengten | |
Wohnverhältnissen kämpft die Tochter sich hoch bis zum Abitur, studiert | |
später Politik. | |
2010 wird sie Grundsatzreferentin für interkulturelle Angelegenheiten in | |
der Berliner Senatsverwaltung für Inneres und Sport, wo sie Dialoge | |
zwischen Muslim*innen und der Mehrheitsgesellschaft fördert. 2014 macht | |
Frank-Walter Steinmeier sie zur stellvertretenden Sprecherin des | |
Auswärtigen Amts. In Videos, die der Journalist Tilo Jung aus dieser Zeit | |
für sein Format „Jung & Naiv“ gemacht hat, wirkt sie oft unvorbereitet und | |
nicht besonders souverän in der Rolle als Sprecherin. Doch manche | |
Journalist*innen erzählen, dass Jung damals eine regelrechte Obsession | |
entwickelt habe, Chebli bloßzustellen. | |
Im Dezember 2016 wird sie Bevollmächtigte des Landes Berlin beim Bund und | |
Staatssekretärin für Bürgerschaftliches Engagement und Internationales. | |
Seitdem koordiniert und fördert sie ehrenamtliche Arbeit und steht im regen | |
Austausch mit den Partnerstädten Berlins. Aber vor allem wird sie als | |
Stimme gegen rechts wahrgenommen – und wegen ihrer Twitterfreudigkeit. „Wer | |
von euch Hatern hat mit 12 Geschwistern in 2 Zimmern gewohnt, auf dem Boden | |
geschlafen&gegessen, am Wochenende Holz gehackt, weil Kohle zu teuer war? | |
Wer musste Monate für Holzbuntstifte warten? Mir sagt keiner, was Armut | |
ist“, twittert sie 2018, als ein Foto mit ihr und einer Rolex kursiert. | |
Chebli scheut sich nicht, den Namen Gerhard Schröder in den Mund zu nehmen, | |
der mit seiner Agendapolitik den Niedergang der Sozialdemokraten | |
mitzuverantworten hat. Sie sagt: „Schröder war früher mein Held.“ Sein | |
Charisma, die Art und Weise, wie er Politik gemacht hat, und seine | |
Haudrauf-Art hätten sie angezogen. „Ich hatte das Gefühl, dass er nah | |
ist, dass er die Sprache von uns allen spricht.“ Beide, Schröder und | |
Chebli, kommen aus armen Verhältnissen, sie eint die sozialdemokratische | |
Aufstiegsbiografie. | |
„Ich war lange eine Verfechterin der Agenda“, erzählt Chebli. Sie glaubte | |
fest an das Prinzip „Fördern und Fordern“. „Bei mir hat das ja auch | |
funktioniert, das war mein Blick darauf. Mein Vater hat für sehr wenig | |
Geld doch auch ewig hart geackert. Warum sollen es andere leichter haben?“ | |
Sie habe eine Weile gebraucht, um die soziale Kälte und Ungerechtigkeit der | |
Agenda zu bemerken, dabei kennt sie die beschämenden Gänge zum Amt aus | |
eigener Erfahrung. Heute sagt sie: „Es ist gut, dass wir Hartz IV hinter | |
uns lassen“, und referiert aus dem neuen Sozialstaatskonzept der SPD. | |
Sawsan Chebli ist nicht leicht zu begreifen. Ihr Engagement gegen rechts | |
macht sie nicht automatisch zur Parteilinken. Das will sie auch gar nicht: | |
„Ich kann unterschiedliche Zielgruppen ansprechen: junge Menschen, Frauen, | |
Migranten und Migrantinnen, aber auch Konservative.“ Von Schröder hat sie | |
sich enttäuscht abgewandt: „Es ist traurig, wie ihm der moralische Kompass | |
abhanden gekommen ist“, sagt sie in Bezug auf seine Nähe zu Putin und seine | |
Äußerungen zum Fall Nawalny. | |
Sie würde gern öfter darüber reden, wie die SPD gute Friedenspolitik machen | |
könnte. Chebli will, dass der Bundestag ein Kontrollrecht über die | |
Entscheidungen des Bundessicherheitsrats erhält. Sie will wissen, wie viele | |
Waffen in Länder geliefert werden, die trotz Menschenrechtsverletzungen zu | |
Partnern erklärt werden. In der Türkeipolitik setzt sie auf Solidarität | |
mit Demokrat*innen, hält an der EU-Beitrittsperspektive fest, schließt bei | |
Menschenrechtsverletzungen aber Sanktionen nicht aus. | |
Manche werfen ihr vor, sich ständig als Opfer zu inszenieren oder mit dem | |
Kampf gegen rechts zu monothematisch aufgestellt zu sein. So als würde der | |
Hass, der ihr auf Twitter entgegenschlägt, keine Entsprechung im echten | |
Leben haben. [3][Doch für Chebli ist es Alltag, bedroht zu werden], auf | |
Nazilisten aufzutauchen. Seit längerer Zeit steht sie unter Personenschutz. | |
Ihr engstes Umfeld rät ihr, nicht mehr so viel zu twittern, doch ihr ist es | |
wichtig, laut und wehrhaft zu sein. | |
Auf der Kundgebung gegen Antisemitismus entdeckt sie Sigmount A. Königsberg | |
in der Menge, den Antisemitismusbeauftragten der Jüdischen Gemeinde Berlin. | |
Er erzählt, dass immer mehr jüdische Familien ihre Kinder auf jüdische | |
Schulen schicken wollen, um sie zu schützen. „Eigentlich sollten doch alle | |
Kinder zusammen lernen“, sagt Chebli. „Ja, aber alle Eltern möchten doch, | |
dass ihre Kinder sicher zur Schule gehen können“, entgegnet er. Chebli | |
nickt. Es folgt ein Moment des Schweigens. Die Realität im Jahr 2020 | |
erleben nicht alle gleich. | |
Sawsan Chebli verkriecht sich in ihren schwarzen Mantel, sie friert, sie | |
sieht müde aus. „Ich muss jetzt langsam zu meinem Kind“, sagt sie und geht | |
die Straße entlang, begleitet von LKA-Beamten. | |
17 Oct 2020 | |
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## AUTOREN | |
Jasmin Kalarickal | |
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