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# taz.de -- Indigener Aktivismus in Brasilien: Instagram statt NGO
> Brasiliens Indigene werden nicht erst bedroht seit Bolsonaro Präsident
> ist. Junge Aktivist:innen nutzen soziale Netzwerke, um darüber zu
> sprechen.
Bild: Alice Pataxó dekolonisiert online das Wissen der Mehrheitsgesellschaft
Es ist kurz nach Jahresbeginn, als [1][Alice Pataxó beschließt, Twitter zu
ihrem Tagebuch] zu machen. Wenn Pataxó hier nun über ihr Essen schreibt,
geht es auch darum, wie konsumiert wird. Schreibt sie über Kleidung, geht
es auch um Aneignung und Wertschätzung, um Stereotype und Schönheitsideale.
Und wenn sie über ihren Wohnort schreibt, geht es um Zugänge und
Marginalisierung, darum, welche Räume Indigenen zugestanden werden.
All das führt dann zu den Themen Vertreibung und Ausbeutung, Rassismus und
Kolonialismus. Von alltäglichen Beobachtungen zu großen Fragen – das kann
Alice Pataxó sehr gut.
Menschen wie sie wurden zuletzt immer sichtbarer in Brasilien. Pataxó
gehört mit Kaê Guajajara zu einer neuen Generation von jungen Indigenen,
die eigenmächtig ihre Geschichten erzählen. Sie [2][nutzen dafür soziale
Netzwerke und haben eine große Reichweite]. Was Pataxó und Guajajara da
machen, gab es so bisher noch nicht. Sie brechen mit verstaubten
Vorstellungen der brasilianischen Mehrheitsgesellschaft – das ist das eine.
Das andere: Sie brechen auch mit den traditionellen politischen
Instrumenten ihrer Vorfahren. Sie sprechen nicht auf Klimakonferenzen,
gründen keine NGOs, sind nicht in Parteien. Sie sind auf [3][Twitter,
Instagram und Tiktok].
Es ist Ende September als die 19-jährige Pataxó in ihrem Dorf Aldeia
Craveiro im brasilianischen Bundesstaat Bahia im Wohnzimmer sitzt und über
Zoom mit der taz spricht. Pataxó trägt ein metallenes Septumpiercing statt
des Holzstäbchens, das sie oft auf Instagram trägt – zu unpraktisch sei das
derzeit, sagt sie, es pikst unter dem Mund-Nasen-Schutz.
## Konstruierte Geschichte
„Die Geschichte Brasiliens wurde so konstruiert, dass sie die Geschichten
der Indigenen auslöscht. Viele Menschen kennen unsere Geschichten nicht. Es
gibt zum Beispiel junge Leute, die glauben, Indigene seien die eigentlichen
Eindringlinge, die sich Land nehmen. Dabei leben wir auf Gebieten, die
unsere Vorfahren bewohnt haben“, sagt Pataxó. „Wir sind hier, um über
solche Dinge zu sprechen.“
Mittlerweile folgen ihr über 50.000 Menschen auf Twitter, eine mit über
acht Millionen täglich aktiven Nutzenden in Brasilien relevante und vor
allem unter jungen Menschen beliebte Plattform – zum Vergleich: In
Deutschland sind es Schätzungen zufolge etwas über eine Million. Auch auf
Instagram folgen Pataxó über 20.000 Menschen, seit Juni hat sie zudem einen
Youtube-Kanal namens „Nuhé“, auf Deutsch „Widerstand“. Pataxó macht
Threads, in denen sie Kostüme kritisiert, die Indigene nachahmen.
Wie wenig Wissen über Indigene in der brasilianischen Mehrheitsgesellschaft
verankert ist, wird besonders sichtbar, wenn sie offene Fragerunden für
Menschen macht, die ihr folgen: Dürfen Indigene und Nichtindigene heiraten?
Was ist das lange Ding an deiner Nase? Und wieso sprichst du Portugiesisch?
Wie stehen Indigene zu Homosexualität?
„Hier in unserem Dorf ist das kein wirkliches Thema, alle haben neben einem
gemeinschaftlichen Leben auch ein privates Leben, in das sich niemand
einmischt, also alles ganz entspannt“, sagt Pataxó zur letzten Frage. Sie
ist selbst bisexuell spricht offen darüber, um sichtbar zu machen, dass es
selbstverständlich auch sie gibt: queere Indigene.
## Besondere Art des Erzählens
Pataxó möchte das Wissen der brasilianischen Mehrheitsgesellschaft über
Indigene dekolonisieren. Oft bedeutet das, Dinge erst einmal sichtbar zu
machen. Es sei anstrengend, sagt Pataxó, Grundlegendes immer wieder
erklären zu müssen. Andererseits scheinen es viele wirklich nicht besser zu
wissen. Ihr gelingt es, auf eine Weise zu erklären, dass man mehr erfahren
möchte. Gleichzeitig ist sie so direkt, dass es kaum möglich ist, ihre
Beiträge zu sehen, ohne sich selbst zu fragen: Was habe ich eigentlich
damit zu tun?
Wobei Pataxó nicht über alles so offen spricht: Sie twittert teilweise in
ihrer Sprache, für ihre indigene Community. Wie Therapie sei das, sagt sie.
Immer wieder wird sie aber auch gebeten, Begriffe ins Portugiesische zu
übersetzen. Pataxó zieht hier eine Grenze. „Jetzt finden die Leute unsere
Sprache plötzlich cool, aber es war meinen Vorfahren verboten, unsere
Sprache zu sprechen, sie mussten portugiesisch sprechen“, sagt sie.
„Nur wenige Menschen sprechen unsere Sprache fließend, vor allem junge
Leute wie ich lernen das langsam wieder. Das ist ein schmerzhafter
Rettungsprozess, bei dem wir Wunden unserer Ältesten berühren. Ich halte es
nicht für richtig, Nichtpataxós unsere Sprache beizubringen.“
Alice Pataxó, die indigene Studentin, lebt zwischen zwei Welten, zwischen
Großstadt und Dorf, als queere Instagrammerin in einem Land mit einem
[4][LGBTQ-feindlichen, rechtsextremen Präsidenten]. Sie kritisiert die
brasilianische Mehrheitsgesellschaft, weil diese Indigene als rückständig
abstempelt, und im selben Atemzug problematisiert sie, dass indigene Frauen
häufig jung heiraten und Kinder kriegen.
## Ambivalenz sozialer Netzwerke
Wie für Pataxó sind soziale Netzwerke auch für Kaê Guajajara Werkzeuge. Es
gebe aber eine feine Linie zwischen den Möglichkeiten von Social Media und
dem Risiko, sich kapitalistischer Dynamik zu unterwerfen, nur auf Klicks zu
achten und zu vergessen, wieso man eigentlich tut, was man tut. „Aber alte
Präsidenten gehen, neue Präsidenten kommen, und es ändert sich nichts: Der
Genozid geht weiter“, sagt sie.
Um das Jahr 1500 lebten nach Angaben der Behörden auf dem heutigem Gebiet
Brasiliens drei Millionen Indigene, [5][in den 1950ern waren es
zwischenzeitlich nur noch 70.000. Mittlerweile leben laut dem aktuellsten
Zensus von 2010 817.962 Indigene] auf brasilianischem Territorium. Das
meint Guajajara mit „Genozid“, aber auch die Verbrechen, die gegenwärtig
stattfinden: das Eindringen in geschützte Gebiete und die Rodungen, die
Marginalisierung im urbanen Raum, im Gesundheitssystem, auf dem
Arbeitsmarkt.
Guajajara kam über Musik zu den sozialen Medien: Sie ist Sängerin, während
des Zoom-Gesprächs mit der taz sitzt sie im Tonstudio, neues Album,
zwischen ihren Antworten raucht Guajajara. Sie bezeichnet sich als
„artevista“, eine Mischung aus den portugiesischen Worten für Kunst
(„arte“) und Aktivistin („ativista“). Zwar nutzt sie Instagram, um ihre
Musik zu verbreiten, diese handelt aber von politischen Kämpfen. Und die
Musik wird dann online zum Anlass der Interaktion über politische Themen.
Geboren wurde Guajajara im nördlichen Brasilien, in einer Gegend, die nicht
offiziell als indigenes Land gilt. Guajajaras Familie wurde dort sesshaft,
nachdem sie aus mehreren Regionen vertrieben worden war, zog letztlich aber
nach Rio de Janeiro, wo Guajajara in der Favela aufwuchs. „Viele von uns
ziehen auf der Suche nach einem besseren Leben in große Städte.“ Kaê
Guajajara, 26 Jahre alt, wohnt nun außerhalb Rios, ihre Mutter arbeitet bis
heute als Reinigungskraft in den Hochhäusern der Großstadt.
## Aufklären, aber zu den eigenen Bedingungen
Wenn Kaê Guajajara sich im urbanen Raum bewegt, wird sie angestarrt, weil
sie einen Burger isst, erzählt sie, oder weil sie ihr Handy benutzt. „Auch
wenn ich keine Bemalungen und keinen Haarreif trage, wird meine Anwesenheit
hinterfragt. Leute wollen wissen, was ich hier mache.“ Am Anfang habe sie
dieser Rassismus hart getroffen – aber er habe sie auch politisiert. Sie
begann zu rappen, teilte die Musik online.
Sie möchte damit ihre Kämpfe sichtbar machen und auch aufklären, aber zu
ihren Bedingungen: „Ich möchte meine Zeit nicht damit verplempern, Weiße zu
erziehen.“ Als sie online sichtbarer wurde, beantwortete sie immer wieder
dieselben Fragen, bis sie dachte: Wäre es nicht gut, wenn ich einfach ein
PDF rumschicken könnte, auf dem alles steht? Dann schrieb sie im Kollektiv
ein antirassistisches Buch.
Alice Pataxó und Kaê Guajajara wollen trotz der vielen Anfeindungen
weitermachen. „Es gibt noch immer so viele Dinge, die mir widerfahren, von
denen die Leute keinen Schimmer haben“, sagt Pataxó. „Ich glaube wirklich,
dass unsere Geschichten etwas verändern können.“
19 Oct 2020
## LINKS
[1] https://twitter.com/alice_pataxo
[2] /Polit-Aktivismus-auf-App-Tiktok/!5700164/
[3] /Neues-Videoformat-der-bpb/!5686773/
[4] /Gay-Pride-in-Brasilien/!5605035/
[5] http://www.funai.gov.br/index.php/indios-no-brasil/quem-sao
## AUTOREN
Simon Sales Prado
## TAGS
Kolonialismus
Brasilien
Soziale Medien
Brasilien
Black Lives Matter
Brasilien
TikTok
Bundeszentrale für politische Bildung
Brasilien
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