# taz.de -- Schwieriger Zugang zu Abtreibungen: In die Grauzone gedrängt | |
> Immer mehr Frauen wenden sich für eine Abtreibung an die Organisation | |
> Women on Web – und meiden so das reguläre Gesundheitssystem. Warum? | |
Bild: „Frei, sicher, legal“ sind Abtreibungen in Deutschland nicht: Deswege… | |
Berlin taz | Es liest sich wie ein Protokoll über den Stand reproduktiver | |
Rechte in Deutschland. Forscher*innen sind der Frage nachgegangen, wieso | |
einige Schwangere einen Abbruch bei der Organisation [1][Women on Web] | |
einer Behandlung im Gesundheitssystem vorziehen. | |
Üblicherweise gehen Schwangere in Deutschland zum medikamentösen Abbruch in | |
die Arztpraxis, um die erste Tablette zu schlucken, die zweite wird zu | |
Hause eingenommen. Women on Web hingegen ermöglicht, den Abbruch komplett | |
zu Hause vorzunehmen: Die Wirkstoffe Mifepriston und Misoprostol werden der | |
Schwangeren per Post zugeschickt, ein Hilfetelefon steht rund um die Uhr | |
zur Verfügung. | |
Rechtlich agiert die Organisation in einer Grauzone: Zwar ist es nicht | |
illegal, Tabletten zu versenden und Hinweise zur Einnahme zu geben. Weil | |
die Schwangere [2][die verpflichtende Beratung, die dreitägige Wartefrist | |
und eine Arztbehandlung] damit jedoch umgeht, verletzt sie das | |
Strafgesetzbuch. | |
Dennoch steigen die Anfragen an Women on Web stetig an, seit die kanadische | |
Organisation im April 2019 ihre Arbeit in Deutschland aufgenommen hat. | |
Allein bis zum Jahresende nahmen 1.090 Schwangere an einer Onlineberatung | |
teil, die Voraussetzung für die Zusendung der Tabletten ist. Auf den dabei | |
erhobenen Daten sowie 108 E-Mails der Hilfesuchenden basiert die Studie. | |
## Stigma und Tabu durchbrechen | |
Ihre Ergebnisse beleuchten vielfältige Gründe. „Knapp die Hälfte der | |
Schwangeren entscheidet sich aus dem Wunsch nach Selbstbestimmung und | |
Privatsphäre für eine telemedizinische Abtreibung“, erklärt Margit Endler, | |
eine der fünf Autor*innen. „Die Betroffenen wollen selbst entscheiden, | |
ob, wo und wann sie den Schwangerschaftsabbruch durchführen.“ | |
Knapp die Hälfte der Befragten wandte sich jedoch aufgrund äußerer Zwänge | |
an Women on Web. Mehr als ein Drittel erklärte, in einem kontrollierenden | |
Umfeld zu leben, sodass die Abtreibung geheim gehalten werden muss. Fünf | |
Prozent berichteten, in einer missbräuchlichen Beziehung zu sein, 6 Prozent | |
suchten nach einer Vergewaltigung Unterstützung. In 40 Prozent der | |
Onlineberatungen werden zudem finanzielle Nöte als Grund für das | |
Hilfegesuch genannt. | |
Besonders häufig suchten Minderjährige, Menschen in prekären Verhältnissen | |
und ohne gesicherten Aufenthaltsstatus die Unterstützung. | |
Aus gutem Grund: Krankenkassen übernehmen die Kosten für einen | |
Schwangerschaftsabbruch im Regelfall nicht. Wenn das Einkommen der | |
Betroffenen unter 1.258 Euro im Monat liegt, springt das jeweilige | |
Bundesland ein. Asylsuchende in den ersten 18 Monaten ihres Aufenthalts und | |
Illegalisierte haben gar keinen Anspruch auf Kostenübernahme. Jugendliche | |
bis 16 Jahre benötigen das Einverständnis der Eltern für eine Abtreibung, | |
in der Praxis wird deren Einverständnis häufig bis zum Alter von 18 Jahren | |
eingefordert. | |
„Der Schwangerschaftsabbruch muss für alle Frauen von den Krankenkassen | |
übernommen werden“, fordert Endler. Dieser sei „grundlegend für ihre | |
sexuelle und reproduktive Gesundheit“. Das forderten am vergangenen Montag | |
auch zahlreiche Initiativen anlässlich des Safe Abortion Day. | |
„Telemedizin ist eine Möglichkeit, [3][Schwangerschaftsabbrüche] stärker an | |
dem Bedürfnis der Frauen nach Privatsphäre oder Geheimhaltung zu | |
orientieren“, sagt Endler. Zudem müssten die Gründe für die Wahl des | |
illegalen Wegs angegangen werden, ergänzt Alicia Baier, Mitbegründerin der | |
Doctors for Choice. „Stigma und Tabu müssen durchbrochen werden, dafür ist | |
die Entkriminalisierung unerlässlich.“ | |
6 Oct 2020 | |
## LINKS | |
[1] https://www.womenonweb.org/ | |
[2] /Schwangerschaftsabbruch-in-Deutschland/!5693137 | |
[3] /Ausbildung-in-Schwangerschaftsabbruechen/!5694677 | |
## AUTOREN | |
Franziska Schindler | |
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