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# taz.de -- 30 Jahre Einheit in Leipzig: Das ist unser Haus
> In Leipzig wird nicht nur in linken Kreisen mit Hausbesetzern
> sympathisiert. Der Kampf um die Häuser gilt auch als Auflehnung des
> Ostens.
Leipzig taz | Vor einigen Wochen telefonierte ich mit einem Mann, dessen
Haus gerade besetzt wurde. Er, ein Westdeutscher, hatte das Haus in
Leipzig, das schon seit Jahrzehnten leer stand, vor einigen Jahren gekauft
– als eine Wertanlage. Nun hatten sich linke Aktivistinnen und Aktivisten
darin eingerichtet. Aus den Fenstern hingen Banner mit kämpferischen
Parolen.
Der Hausbesitzer erzählte mir, dass viele Journalisten bei ihm anriefen. Er
würde sie alle abwimmeln. Auch mir erlaubte er nicht, aus unserem Gespräch
zu zitieren, das hätte ja keinen Zweck. Er klang verbittert. Als hätte er
das Gefühl, er sei hier nicht erwünscht. Als lehne sich diese Stadt, von
der ihm doch ein Teil gehört, gegen ihn auf.
Kann das sein? Ich glaube, dass viele in Leipzig heimlich Sympathien für
Hausbesetzungen hegen. Diese Sympathien kommen aus der radikalen Linken,
ziehen sich durch studentische und Mittelschicht-Milieus und enden in der
tiefen bürgerlichen Mitte.
Eine Hausbesetzungs-Partei, davon bin ich überzeugt, könnte in Leipzig eine
Wahl gewinnen. Das liegt daran, dass die besetzten Häuser für eine
Auflehnung des Ostens gegen den Westen stehen. Ich kann das erklären.
Es brauchte in diesem Jahr nur zwei besetzte Häuser, damit ein Hauch von
Nachwendejahren durch die Stadt wehte. Die Besetzungen gingen stilecht
vonstatten, mit VoKü am Bürgersteig und eben aus Fenstern gerollten
Parolen. „Die Häuser denen, die drin wohnen“ und andere Slogans wurden
entstaubt. Die Polizei rückte an, um die Besetzer zum Teil mit körperlicher
Gewalt zu entfernen.
Einmal kamen zwanzig Polizeiwannen, um zwei Hausbesetzer festzunehmen.
Vielen Leipzigern mutete das Vorgehen der Polizei unverhältnismäßig an.
Aber dann passierte das Unvermeidbare. Es entstanden Riots. [1][Im Osten
der Stadt und in Connewitz, wo die besetzten Häuser liegen, trafen
Polizisten und Vermummte aufeinander]. Es kam zu Gewaltausbrüchen, von
denen beide Seiten sagten, die jeweils andere hätte sie provoziert. [2][Und
in Leipzig zählte man nun jene, die sich Straßenschlachten mit den „Cops“
lieferten, zu den Hausbesetzern]. Die konnte man nicht gut finden. Oder
doch?
Einige Tage nach den Krawallen saß ich mit [3][Wolfgang Tiefensee] vor dem
Redaktionsgebäude der Leipziger Volkszeitung. Tiefensee, der in den
Nachwendejahren erst Stadtrat, dann Oberbürgermeister der Stadt Leipzig
gewesen war, erzählte mir, wie er in den Neunzigern mit Hausbesetzern
verhandelt hatte. Er vermittelte zwischen Besetzern und Besitzern. Häufig
durften die Besetzer bleiben. Dafür mussten sie das Haus instand halten
oder renovieren.
## Legitime Kritik
Tiefensee sagte, Hausbesetzer wiesen „zu Recht auf einen Missstand hin“. Es
sei „legitim zu kritisieren, dass der Wohnungsmarkt so nicht funktioniert“.
Und viele Leipziger würden sich doch „über verwahrloste Grundstücke und
unsanierte, leere Häuser“ ärgern.
Einen ersten Beweis für die These des Ex-OBs bekam ich, als ich das
Redaktionsgebäude wieder betrat. Da nahm mich unser Wachmann beiseite.
Diese Gewalt gegen Polizisten, sagte er, die ginge gar nicht. Aber diese
Hausbesetzer hätten schon irgendwie recht. Es könne nicht sein, sagte der
Wachmann, der die DDR miterlebt hatte, dass jemand ein Haus so lang leer
stehen lässt, bis sich der Weiterverkauf für ihn lohnt.
Ich hörte das in den folgenden Tagen immer wieder. Von Kollegen, die ich
für eher konservativ halte. Von Freunden, die nie auf eine linksradikale
Demo gehen würden. Und natürlich von all meinen linken Freunden.
Irgendwann begann ich bei vielen aktiv nachzufragen. Mittlerweile kann ich
behaupten: Niemand in Leipzig hat etwas gegen Hausbesetzer. Der
Hausbesitzer, der glaubte, in der ganzen Stadt sei niemand auf seiner Seite
– er hatte recht.
Es gab schon einmal eine Zeit, in der Hausbesetzungen für eine bürgerliche
Mitte interessant waren: das Westdeutschland der siebziger und achtziger
Jahre. Wie viele Altbauwohnungen in Göttingen, Bremen oder Tübingen würde
es heute nicht mehr geben, hätten sich damals nicht Hausbesetzer darin
breitgemacht? Andernorts rissen Spekulanten ganze
Dielen-und-Stuck-Quartiere nieder, um profitable Neubauten zu errichten.
Natürlich ging es den Hausbesetzern von damals weniger darum,
Altbauwohnungen zu retten, sondern man wollte alternative Lebenskonzepte
formulieren. Auch heute „rettet“ kein Hausbesetzer einen Altbau. Die
Besetzungen von heute sind eher symbolischer Natur. Aber sie verweisen auf
eine Ungerechtigkeit, die viele Leipziger nachfühlen können. Denn die
Hausbesitzer sind so gut wie immer: Westdeutsche.
Man muss im 30. Jahr der Einheit nicht mehr groß erklären, dass die
Wiedervereinigung auch eine Vereinnahmung war. Das Hab und Gut der DDR, das
ihren Bürgern gehören sollte, wurde auf einmal vom Westen verwaltet und
aufgeteilt. Kaum eine ostdeutsche Familie hat heute etwas zu vererben. Und
kaum ein Haus in der Leipziger Innenstadt hat einen ostdeutschen Besitzer.
Wenn jemand in Leipzig heute ein Haus besetzt und einen Leerstand anmahnt,
dann bedroht er damit oft die Geldanlage eines Westdeutschen, der sich in
den Wendejahren billig ein Haus gekauft hat, das heute vielleicht eine
Million wert ist. Es ist dabei natürlich völlig egal, welche Herkunft jene
haben, die das Haus besetzen.
Dass es in Leipzig kein breites Pro-Hausbesetzungen-Bündnis, eine
Hausbesetzer-Partei gibt, liegt daran, dass mit linker Protestkultur nicht
jeder etwas anfangen kann. Mit der Kritik am sich bereichernden Westen
können aber viele mitgehen. Ginge es gegen den Westen, davon bin ich
überzeugt, würden sich die Leipziger am liebsten gleich mit
verbarrikadieren.
3 Oct 2020
## LINKS
[1] /Demonstrationen-fuer-Hausbesetzerinnen/!5712514/
[2] /Demonstration-fuer-Hausbesetzerinnen/!5712523/
[3] /Rueckzug-von-Wolfgang-Tiefensee/!5686810/
## AUTOREN
Josa Mania-Schlegel
## TAGS
Deutsche Einheit
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