# taz.de -- Berlin am Anfang des 20. Jahrhunderts: Die Unerzählbarkeit der Sta… | |
> Hans Ostwalds „Großstadt-Dokumente“ waren ein | |
> Late-Night-Sex-and-Crime-Reiseführer für Berlin. Jetzt ist eine Auswahl | |
> erschienen. | |
Bild: Straßenverkehr auf der Friedrichstraße in Berlin-Mitte, 1906 | |
Berlin um 1900 herum. Von allem gibt es immer mehr: immer mehr Fabriken, | |
immer mehr Arbeiter, immer mehr Kaschemmen, immer mehr Banken, immer mehr | |
Luxuswarenhäuser, immer mehr Kultur, immer mehr Kleinganoven und | |
Schwarzhändler, immer mehr Autos – und immer weniger „Hafermotoren“ | |
(Pferdedroschken). | |
Hans Ostwald, Berliner Autor und Journalist, ist beeindruckt von der | |
schnell wachsenden Stadt. Und zwar einerseits von den neuen Gebäuden, den | |
Bars und Tanzklubs, andererseits aber auch von der Kehrseite: der | |
wachsenden Anzahl von Großstadtverlierern und Habenichtsen, die in | |
überbelegten Mietskasernen hausen müssen. | |
Noch ist Berlin zwar nicht Groß-Berlin – erst Jahre später, am 1. Oktober | |
1920 tritt das Groß-Berlin-Gesetz in Kraft. Charlottenburg, Wilmersdorf, | |
Lichtenberg, Neukölln, Schöneberg und Spandau sind noch eigenständige | |
Städte und hier und da durch öde Sandflächen und Wiesen von Berlin | |
getrennt, aber es zeichnet sich bereits ab: Hier wächst was zusammen. | |
Ostwald, damals 31 Jahre alt, will es festhalten. | |
Er bringt ein Großprojekt auf den Weg: die „Großstadt-Dokumente“, eine Art | |
Special-Interest-Late-Night-Sex-and-Crime-Reiseführer. Sie erscheinen | |
zwischen 1904 und 1908. Es sind am Ende 50 Bände, insgesamt an die 5.000 | |
Seiten. Jeder Band ist einem Themengebiet gewidmet: Einer beschäftigt sich | |
mit Kaffeehäusern, der andere mit Tanzklubs; einer berichtet von den | |
miserablen Wohnungsbedingungen in Mietskasernen, ein anderer aus den | |
Gefängnissen. Es gibt Bände über Sport in Berlin und über Künstler, und es | |
gibt welche über Kleinganoven, Zuhälter, Anarchismus und Homosexualität. | |
Zur Feier des 100. Jubiläums des Groß-Berlin-Gesetzes ist im Galiani Berlin | |
Verlag nun eine von Thomas Böhm herausgegebene Auswahl von 50 Texten aus | |
den „Großstadt-Dokumenten“ erschienen. Eine Zusammenstellung, die den | |
damaligen Vibe der Stadt wiedergeben soll. | |
Ostwalds Großstadtserie unterscheidet sich nicht nur durch den enormen | |
Umfang von anderen Versuchen, das Leben in der Stadt zu erfassen, sondern | |
auch in der Art und Weise, wie sie geschrieben und konzipiert ist: | |
dokumentarisch, abwechslungsreich und vielstimmig. Die Texte sind | |
wissenschaftlich, journalistisch und auch literarisch – unterschiedliche | |
Gattungen existieren nebeneinander, so wie unterschiedliche Gestalten | |
nebeneinander in der Stadt spazieren. | |
Für diese Zeit ist das sehr modern. Ostwald hält nichts von | |
althergebrachten Lösungen: „Die verblüffende Raschheit des Wachsens der | |
Großstädte schließt fast aus, dass ihr riesenhafter Gehalt in einem | |
Kunstwerk, etwa in einem Roman wiedergegeben werden kann. Das ist selbst | |
einem Zola nicht immer gelungen. Und wir wollen froh sein, dass wir über | |
die Zeit solcher Romane hinweg sind“, heißt es im Vorwort des ersten | |
Bandes, „Dunkle Winkel in Berlin“. Die Großstadt, davon ist Ostwald | |
überzeugt, lässt sich nicht in ein Schema mit Anfang und Ende packen. Er | |
will sich der Wirklichkeit der Stadt durch präzise beschriebene Ausschnitte | |
nähern – er will Rohmaterial liefern, dokumentieren und nicht werten. | |
Eins ist ihm dabei von Anfang an klar, alleine schafft er das nicht: „Es | |
ist bei der Vielfältigkeit des Großstadtlebens, bei seiner Universalität | |
jetzt ganz unmöglich, daß ein Einzelner sich einen Einblick in all die Wege | |
und Adern verschafft, durch die ihr Blut pulst. Er muß zufrieden sein, wenn | |
er in seinem Spezialfach Bescheid weiß. Er muß zufrieden sein, wenn er die | |
Straßen seines Viertels kennt.“ | |
Also sucht er sich Mitstreiter, die wie er Lust haben, die Stadt zu | |
erkunden. Er findet zahlreiche Mitautoren, insgesamt sind es 40 Männer und | |
eine Frau. Unter den Autoren sind Journalisten, Schriftsteller, | |
Sozialarbeiter, Ärzte, unter Pseudonym berichtende Berliner Beamte, | |
Sozialpolitiker, Lehrer, Juristen. Sie bringen ihre Expertise mit ein: Die | |
Sammlung soll „ein Wegweiser durch dies Labyrinth der Großstadt werden. Der | |
Sachkenner soll den Wissbegierigen an die Hand nehmen und ihn | |
hindurchführen durch diese zahllosen Wirrnisse“, schreibt Ostwald. | |
Ostwald, der selbst insgesamt fünf Bände schreibt, begibt sich zu den | |
Treffpunkten der Halbwelt, in die Kneipen und Spelunken. Das ist sein | |
Spezialgebiet, darin hat er Erfahrung: Er hatte sich bereits durch sein | |
Buch „Vagabonden“ einen Namen gemacht, als er 18 Monate lang als | |
Landstreicher durch Deutschland zog. Für die „Großstadt-Dokumente“ schlü… | |
er wieder in die Rolle eines Obdachlosen, verbringt eine Nacht im | |
städtischen Asyl. „Im Lichtschein der wenigen Laternen sah ich einzelne | |
Gestalten dem letzten Gebäude der Fröbestraße zustreben. Gestalten mit | |
gesenkten Köpfen. Gestalten mit schleifendem, müdem Gang.“ | |
Der Night-Life-Experte Dieter Richard nimmt die Leser mit auf einen | |
Streifzug durch die Nachtlokale, nach dem Motto: Was muss man auf jeden | |
Fall gesehen haben. Beispielsweise das Linden-Kasino, wo „irgendein | |
besäufter Russe mit dem Revolver ein Loch in die Decke geschossen hat. Das | |
bedeutete zunächst das Ende dieses Lokals, dessen ganze Herrlichkeit im | |
Wesentlichen erst nach zwei Uhr nachts begonnen hatte.“ | |
Ostwald schickt den [1][Sexualwissenschaftler Magnus Hirschfeld] auf die | |
Piste und dieser schreibt Beiträge über Sexualität außerhalb der | |
bürgerlichen Ehe, über Prostitution und Homosexualität, aber auch über | |
Alkoholismus. Der Sozialarbeiter Alfred Lesson besichtigt Elendswohnungen | |
und beschreibt mit fast wissenschaftlicher Präzision und Statistiken, | |
„welche Reihe von Krankheits- und Todesfällen ein und dasselbe licht- und | |
lustlose Wohnungsloch seit Jahren nach sich gezogen hat“ – Rheumatismus, | |
Schwindsuchtsfälle, Tuberkulose, Luftröhrenkatarrh etc. | |
Beim Lesepublikum kam Ostwald mit diesem Konzept sehr gut an. Die | |
„Großstadt-Dokumente“ waren ein beachtlicher Verkaufserfolg, obwohl ein | |
Band über das lesbische Leben in Berlin aus dem Verkauf gezogen wurde, | |
Zensur. Die vorliegende Auswahl der Undercover-Recherchen macht Spaß zu | |
lesen, vor allem für den, der sich für die Geschichte Berlins interessiert, | |
sein damaliges Frühmorgengesicht, das Herumgewusel am Mittag, den Puls am | |
Abend. | |
Erkenntnisse bringt auch das Vorwort, in dem Biografisches von Ostwald | |
nachgezeichnet wird: Zunächst war er SPD-Mitglied, nach Hitlers Übernahme | |
diente er sich aber den Nazis an – die Bücher mancher seiner Mitautoren | |
wurden verbrannt. Auch das ist das Nebeneinander in einer Großstadt. | |
Typisch Berlin. | |
Hans Ostwald: „Berlin – Anfänge einer Großstadt. Szenen und Reportagen | |
1904–1908“. Herausgegeben von Thomas Böhm. Galiani Berlin, 416 Seiten, 28 | |
Euro. | |
26 Oct 2020 | |
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## AUTOREN | |
Aleksandar Zivanovic | |
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