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# taz.de -- Neue Schnellbahn in Großbritannien: Ökorebellion im alten England
> Der Bau des derzeit größten Infrastrukturprojekts Europas HS2 beginnt –
> und der Widerstand wächst. Denn jahrhundertealte Wälder müssen weichen.
Bild: Kunststudentin Ash im Naturschutzgebiet Denham Park
Es ist Teezeit im Wald. Idyllisch wirkt das Zeltlager. Durch die Bäume
scheint die Nachmittagssonne, ein Traktor tuckert irgendwo, Kornblumen
warten auf die Ernte. Plötzlich erscheint ein Pick-up am Waldrand, und alle
rennen aufgeregt herum.
Die Leute im New-Poors-Piece-Lager rechnen permanent mit der Räumung.
Dieses Altwaldgebiet ist eines von vielen in England, das der Bahnstrecke
HS2 weichen soll, die gigantische neue Hochgeschwindigkeitsbahn.
Die Aufregung im Wald entpuppt sich als Fehlalarm. Es war nur ein Fahrzeug
des örtlichen Stromversorgers, ermittelt der 32-jährige Forstökologe und
Aktivist, der sich wie alle der Stop-HS2-Aktivisten gegenüber Medien nur
mit einem Pseudonym identifizieren lassen will: „Poet of Poors Piece“, der
Poet von Poors Piece. „Können Sie die Alliteration im Namen auf Deutsch
rüberbringen?“, bittet er neugierig.
Die Grundidee für HS2 entstand noch zu Zeiten der letzten Labour-Regierung
2009. Eine neue Schnellbahnstrecke soll London zunächst besser an
Birmingham und später an den ehemals industriellen Norden anbinden. Nach
jahrelangem Hin und Her gab Boris Johnson im Februar grünes Licht. Für ihn
erfüllt das Projekt sein Wahlversprechen, massiv ins eigene Land zu
investieren, vor allem zugunsten der abgehängten Regionen.
Laut Regierung wird HS2 Straßen- und Luftverkehr auf die Schiene verlagern,
die Passagierkapazität zwischen London und Birmingham erhöhen, die alte
Bahnstrecke für den Güterverkehr frei machen und einen Umschwung auf
„grünen“ Verkehr symbolisieren. Doch der Bau zerstört viel Natur und
verbraucht Unmengen Beton.
## Hunderte Naturschutzgebiete und Wälder müssen weichen
Selbst nach den eigenen Berechnungen wird HS2 erst nach 120 Jahren
Klimaneutralität erreichen, und all das mitten in der Klimakrise. Und die
Stecke ist nicht mal richtig an andere Bahnlinien angebunden, weder an den
Eurostar – Großbritanniens erste Hochgeschwindigkeitslinie, genannt HS1-
noch an Schottland oder Wales oder auch nur die richtig abgelegenen
Nordregionen Englands.
Während jahrelang politisch um HS2 gestritten wurde, stiegen die
prognostizierten Baukosten von umgerechnet rund 40 auf rund 120 Milliarden
Euro – die Strecke entsteht nicht entlang bestehender Bahnlinien, sondern
völlig neu, einschließlich vieler Tunnel aus Landschaftsschutzgründen.
Dennoch müssen 700 Naturschutzgebiete und 100 Altwälder weichen, sagen
Naturschützer. Von ländlichen Konservativen bis zu Umweltaktivisten reicht
die Spanne der HS2-Gegner. Besetzer haben Lager entlang der Strecke
errichtet, oft in Bäumen verschanzt.
Anfang September scheiterte die letzte gerichtliche Prüfung. Am 5.
September war offizieller Baubeginn, seitdem betreibt die von der Regierung
gegründete Firma HS2 Ltd die Räumung, Rodung und Absperrung großer Flächen.
Abzäunungen, teilweise mit Stacheldraht, rasche Abholzungen und
Betonierungen sollen irreversible Fakten schaffen.
Die Kampagnen „Stop HS2“ und „HS2 Rebellion“ – letztere ist mit Extin…
Rebellion verbunden – versuchen ihrerseits, durch Störaktionen
Aufmerksamkeit zu erzeugen und die Arbeiten zu erschweren, nicht nur in
Naturschutzgebieten, auch auf Bäumen vor dem Parlament und vor dem
Endbahnhof Euston in London.
Der Bauernhof in Jones Hill, Buckinghamshire, ist von einem Metallzaun
umgeben. Im Stall liegt noch Heu, doch der Hof steht gespenstisch leer.
Sicherheitsleute in gelber Schutzkleidung stehen anstelle der Kühe herum.
„Die Bahnstrecke geht mitten durch unser verdammtes ehemaliges Wohnzimmer!“
sagen die Besitzer, ein junges Pärchen, die zufällig anderswo angetroffen
werden.
In unmittelbarer Nähe liegt ein Stop-HS2-Waldlager. Dort erklären Ross, 37,
und Punky, 48, dass die Räumung des Waldes bevorsteht. Er ist an die 400
Jahre alt, die uralten Bäume stehen eigentlich unter Schutz. Angeblich will
HS2 Erde von hier „retten“ und abtransportieren. Solange sie noch hier
sind, dokumentieren die Umweltschützer*innen die Artenvielfalt und die
Zerstörung.
„Während der Pandemie hat HS2 trotz Verbots auch während der Vogelbrutzeit
gerodet, und wenn nun bald die Schutzzeit für Dachse abläuft, kann es nur
bedeuten, dass die Kettensägen und Planierraupen bald anrücken, um auch
diese kleine Oase zu zerstören und alles, was darin lebt“, sagt Ross, dreht
sich einen Spliff und zählt auf: „43 verschiedene Falter und Motten, Eulen,
drei Dachsfamilien, ein Fuchs, elf verschiedene Heckensorten, sieben Arten
von Fledermäusen, acht Muntjaks (Zwerghirsche), Siebenschläfer.“
## Ganze Familien wehren sich
Punky, mit rosa Irokesenschnitt, glaubt, dass HS2 symptomatisch für vieles
ist. „Die Enteignung von Land, die Konstruktion eines staatlich
sanktionierten Projekts ohne sozialen oder wirtschaftlichen Sinn, sondern
nur für die beteiligten großen Firmen, die Zerstörung von Natur und
Tierwelt und die globale Naturzerstörung.“ Die Allgemeinheit verstünde
nicht richtig, was hier geschehe, sind sich beide sicher. Seit Neuestem
gehen sie auf die Wochenmärkte, um die Bevölkerung besser aufzuklären.
Die Naturschützer*innen in New Poors Piece weiter nördlich setzen auf
Öffentlichkeitsarbeit. An einer Landstraßenkreuzung zimmern Freiwillige aus
alten Brettern ein Infozentrum zusammen. Es war die Idee des 30-jährigen
Luke, der einst bei Anti-Fracking-Protesten in Yorkshire mithalf. Anders
als HS2 ist Fracking in Großbritannien inzwischen Geschichte, es fiel
Protesten und dem Klimawandel zum Opfer. „Wir müssen sichtbar sein, denn im
Wald sehen die Menschen uns nicht“, glaubt Luke.
Der Wald „Poors Piece“ ist ebenfalls Jahrhunderte alt. Seit 400 Jahren ist
verfügt, dass er unberührt bleiben soll, damit die Armen Reisig für
Feuerholz haben. Der heutige Besitzer Ben Higgins kaufte vor fünf Jahren
zwei Äcker, zu denen auch der Wald gehört, um einen ökologischen Betrieb
aufzubauen.
Auf seinem Traktor erzählt der 48-Jährige, wie er als Junge mit seinen
Freunden im Wald spielte, obwohl die Eltern es verboten. Heute ist die
Hälfte abgeholzt. „Wir hoffen, dass HS2 nicht all unser Land nimmt“, sagt
er. Die Landstraße zu seinem Hof ist einen Kilometer weiter bereits
abgesperrt, die Bahnstrecke soll mitten über die Straße führen. Auch
Higgins glaubt, dass die Leute vor Ort noch nicht ganz verstehen, was hier
abgeht. Es könne jedoch nicht lange dauern, bis es allen klar werde.
Die ganze Familie wehrt sich, erzählt er, selbst sein hochbetagter Vater.
Deswegen tolerieren sie auch die Stop-HS2-Leute. „Es war für uns einfach
unmöglich zuzusehen, wie all das hier für einen blöden Zug zerstört wird,
den niemand braucht. Wir mussten etwas tun“, verkündet Higgins mit ernster
Miene. In der Zwischenzeit bleibe ihm nichts weiter übrig, als das Feld
fertig für den Winter zu machen.
Im Londoner Bezirk Camden bedeutete HS2 bereits das Abholzen alter Bäume in
der Nähe der Stadtautobahn und die komplette Zerstörung eines ehemaligen
Friedhofs, samt Umbettung von über 40.000 menschlichen Überresten. Der
Labour-Bezirksrat schaute weg, lediglich Grüne und Liberaldemokraten
engagierten sich. Lokalaktivistin Dorothea Hackman, 68, bekämpft HS2 hier
bereits seit 2014. Ihr Erfolg? Ein paar gerettete Bäume, sonst nichts.
Offiziell behauptet HS2, für verlorene Wälder anderorts neu aufzuforsten.
Aktivist Ross in Jones Hill weiß, was solche Aktionen wirklich bedeuten:
„5000 Bäumchen von nur drei Sorten werden gepflanzt, die dann alle
vertrocknen.“
## Gebrochene Nasenbeine bei der Räumung
Im Naturschutzgebiet Denham Park am Rand Londons wurde ein Stück Altwald
innerhalb eines Tages abgeholzt, darunter uralte Bäume mit
Naturschutzsiegel – für eine temporäre Zugangsstraße zur richtigen
Baustelle. Die Aktivist*innen im Protestcamp verstehen das nicht: Gleich
nebenan verläuft ein alter Wasserkanal aus dem 19. Jahrhundert, der auch
als Transportweg dienen könnte.
Die 22-jährige Kunststudentin Ash im Protestcamp von Denham Park erzählt
von klammheimlichen HS2-Aktionen, die urplötzlich irgendwo mit großen Teams
auftauchen und Bäume fällen. „Hier benutzt HS2 nachts absichtlich ins Lager
strahlendes grelles Licht“, berichtet sie.
Immer wieder wird erzählt, wie gewaltsam HS2 bei Räumungen vorgeht:
Verhinderung des Absteigens von Baumhäusern, Zerschneiden der Seile,
Wegzerren von Aktivist*innen von öffentlichem Land auf gesperrtes, um sie
dort „legal“ festzunehmen; Schläge, Brandwunden beim Zerschneiden von
Schlössern, mit denen sich Stop-HS2-Aktivist*innen an Baugeräte fest
schließen; gebrochene Nasenbeine, Schultern und Finger.
Drei Kilometer entfernt entstand schon 2017 das allererste
Anti-HS2-Protestlager: Harvill Road. Diese Gegend ist von besonderer
Bedeutung, denn hier geht es nicht nur um Wald und Tiere. „Die dortigen
tief in den Grund gehenden Bohrungen, um später hier die Zugstrecke auf
einer Betonerhöhung bauen zu können, gefährden das Trinkwasser von 22
Prozent von London, insgesamt 2,3 Millionen Londoner*innen, weil sie das
natürliche Filtrationssystem zerstören“ berichtet Jo Rogers, 45, eine
Medienexpertin, die ihre Zeit der Stop-HS2 Kampagne schenkt.
Bereits jetzt würde sich Wasser in den umlegenden Seen und Bächen eintrüben
und milchig mit Kalk vermischen. Laut Rogers erhielt die Firma, welche hier
für die Wasserversorgung zuständig ist, eine nach oben offene Summe für
Gegenmaßnahmen wie künstliche Filtrierung. Doch: „Eines der Probleme, dass
wir haben, ist, dass niemand Einsicht in die Pläne hat“.
Das, so Rogers weiter, sei ein Problem mit HS2 insgesamt. Beispielsweise
sei es schwer, herauszufinden, ob die Firma überhaupt befugt sei, ein
bestimmtes Gebiete zu räumen, und wo genau die Grenzen ihrer Befugnisse
stehen. Es habe sich beispielsweise herausgestellt, dass HS2 breitere
Strecken räumt als von den meisten erwartet.
Die gesamte zukünftige Strecke von London nach Birmingham entlang reihen
sich bereits Absperrungen und Bauzufahrten. Es wird kälter, viele der
Aktivist*innen bereiten sich auf schwere Monate vor. In den Camps wird nun
versucht, den Abbau von Baumhäusern zu erschweren. Es gibt Spähtürme und
Absperrungen aus Holz. Im Lager Wendover sind Leute bereit, jegliche gegen
sie gerichtete Gewalt ähnlich zu beantworten, manche bezeichnen das Camp
als „War Camp“.
Doch die meisten bleiben beim gewaltfreien Protest. Ruby, 36, eine
schottische Therapeutin im New Poors Piece Camp, will einfach mit dem
Sicherheitspersonal reden. „Ich versuchte, ihnen klar zu machen, dass sie
diese Naturzerstörung möglich machen, indem sie den Arbeitern Schutz und
Deckung geben.“
## Wie aus einem Science-Fiction-Film
Kann HS2 noch gestoppt werden? In Covid-19-Zeiten, wo der Pendlerverkehr
einbricht, erscheint das Projekt widersinnig und finanziell kaum tragbar.
Aber die Zerstörung von Natur und die Zwangsenteignung von Privatbesitz
können wohl nicht mehr rückgängig gemacht werden. Vielleicht werden dann
einfach Häuser gebaut.
Indra, 50, und ihre Tochter Morgana, 29, haben sich im Crackley Wood Camp
bei Coventry niedergelassen, auf dem privaten Land von Besitzern, die die
Aktivist*innen unterstützen. Für Indra, eine Veteranin unterschiedlicher
Proteste, ist HS2 – offiziell das größte Bauvorhaben Europas – ein Skandal
von unfassbarer Dimension, ein Denkmal von Korruption und
Selbstermächtigung, Enteignung, fehlender Demokratie, Machtmissbrauch,
Zertrampeln von Menschenrechten und Zerstörung der Natur. „Die Polizei
schaut oft zu und greift nicht ein, selbst wenn Aktivist*innen klar
misshandelt werden“, berichtet Indra von den Räumungen.
Schließlich geht es in den Wald. Unberührte Natur grenzt an zerstörte.
Dazwischen ein Zaun. Von der anderen Seite, wo bereits gerodet wurde,
blitzt plötzlich ein Gerät auf, das den berüchtigten Dalek-Robotern aus der
TV-Science-Fiction-Serie „Dr Who“ gleicht. Es handelt sich um eine
Sicherheitskamera mit eingebauter nordirischer Stimme – Sicherheitstechnik
aus dem Nordirlandkonflikt, mitten im englischen Wald.
Eine ganze Schar Daleks ist hier unterwegs. Bis zum Verlassen des Waldes
blitzt es dreimal.
1 Oct 2020
## AUTOREN
Daniel Zylbersztajn
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Lesestück Recherche und Reportage
Großbritannien
Boris Johnson
Bahn
Infrastruktur
Großbritannien
Schwerpunkt Klimawandel
Protest
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