# taz.de -- Der Hausbesuch: Gelebtes Leben zeichnen | |
> Anusch Thielbeer ist Grafikerin, Illustratorin und vieles mehr. Sie | |
> gehört zu den Menschen, die an das Glück glauben. Und das Leben gibt ihr | |
> recht. | |
Bild: Ansuch Thielbeer's neustes Projekt ist ein Buch über 13 Rebellinnen | |
Pinsel, Farben, Papier, das richtige Licht. Mehr braucht Anusch Thielbeer | |
nicht, um das, was sie auf Berliner Straßen erlebt, in Kunst umzusetzen. | |
Draußen: Ein unsaniertes Haus inmitten des stark gentrifizierten Berliner | |
Bezirks [1][Prenzlauer Berg,] mit Einschusslöchern aus dem Zweiten | |
Weltkrieg, knarrenden Holztreppen, alten Fenstern. Zu Beginn des 20. | |
Jahrhunderts war in dem Gebäude eine Uniformschneiderei, später in der DDR | |
eine Druckerei und eine Tischlerei. | |
Drinnen: In der ersten Etage hinter einer Stahltür ist das Künstleratelier. | |
Hier arbeiten – neben Anusch Thielbeer – eine Bühnenbildnerin, Möbel- und | |
Ausstellungsdesignerinnen, ein Key-Account-Manager, ein Tischler, ein | |
Set-Designer. Überall verteilt im Raum mit der hohen, weiß getünchten | |
Kappendecke stehen oder hängen Bilder, Zeichnungen, Modelle von | |
Theaterstücken, Holz, Computer. „Eine coole Gemeinschaft“, sagt Thielbeer: | |
„Eine Zweckgemeinschaft zwar, die sich aber gegenseitig hilft und | |
inspiriert.“ | |
Die Gestalterin: Anusch Thielbeer ist Grafikerin und Illustratorin; sie | |
unterrichtet und illustriert Bücher. Ihr neuestes ist eins über 13 | |
Rebellinnen von heute, das sie mit der Autorin Kathrin Köller zusammen | |
geschrieben hat. Es sei schon auffallend, dass Rebellinnen von heute sich | |
gegen ganz anderes wehren müssen als das, wogegen Rebellinnen früher waren. | |
Früher ging es mehr um politische Veränderungen, heute mehr um persönliche | |
Entwicklung. Die 13 jungen Frauen, die zwischen 12 und 20 Jahre sind, | |
sprechen über ihr Leben, ihre Überzeugungen, Ängste, Visionen und Wünsche. | |
„Ich war erstaunt, dass manche von ihnen schon extreme Geschichten erlebt | |
haben“, sagt Thielbeer. „Depressionen, Verlust eines geliebten Menschen, | |
Trennungen, Flucht. Ein Mädchen ist gehörlos.“ Aufgeben aber sei keine | |
Option. Sie ließen sich vom Leben nichts vorschreiben. „Das fasziniert mich | |
immer bei Menschen: Wie schaffen sie es, mit Krisen umzugehen?“ Es ist auch | |
Thielbeers Thema. | |
Erstes Ausbrechen: Thielbeer ist in den 60er Jahren in Hamburg geboren. | |
Nach dem Abitur studiert sie ein halbes Jahr in Darmstadt Industriedesign, | |
macht Ende der 80er Jahre ihr Diplom an der Kunstakademie in Kiel, kommt im | |
März 1990, wenige Monate nach der Maueröffnung, nach Berlin. Sie sei „total | |
elektrisiert“ vom Ostteil der Stadt gewesen. Dort lebt sie dann auch, | |
verdient ihr Geld mal als Möbeldesignerin, mal hinterm Tresen des | |
[2][Kunst- und Kulturprojekts Tacheles]. Später gestaltet sie dort die | |
Plakate des Tanztheaters und heuert bei der damals angesagten Grafikagentur | |
Grappa Design an. | |
Ostberlin, Anfang der 90er Jahre: „Der Osten war für mich das Glück auf | |
Erden: Illegale Partys in illegalen Klubs, jeden Tag gab es was Neues. Der | |
Osten eröffnete mir eine Welt, die ich bis dahin nur aus Büchern kannte. | |
Die Zeit schien wie eingefroren.“ Am interessantesten habe sie die Menschen | |
gefunden. Die waren „so anders drauf“, offen, unbedarft, lebenshungrig, | |
weniger arrogant als Westdeutsche. „Ich fand das irre: Ost- und | |
Westdeutsche sprechen die gleiche Sprache, aber sie waren komplett | |
unterschiedlich damals. Das hat mich geflasht.“ | |
Spanien: Trotz ihrer Ekstase geht sie, verlässt Berlin. „Der Liebe wegen.“ | |
Es ist immer die Liebe, die neue Wege öffnet. Sie geht mit ihrem damaligen | |
Freund nach Spanien, in die Pyrenäen. Sie zieht in das Dorf, aus dem der | |
Freund kommt. Dort leben sie 18 Jahre zusammen. Sie bekommt drei Kinder, | |
die heute 16, 19 und 22 Jahre alt sind. | |
Das Dorf in den Pyrenäen: Da ist die vermeintliche Ursprünglichkeit, die | |
sieht man, wenn man von außen auf das Dorf schaut. Doch es gibt auch den | |
ganz normalen Alltag, so langweilig, so schwierig wie anderswo. Und wie | |
anderswo verliert sich auch die Liebe bei Thielbeer und ihrem Freund. Sie | |
will aber kein Leben ohne Liebe, kein Leben in den engen Verhältnissen der | |
katholischen Provinz. Sie will nicht bleiben, nur weil sie mal da ist. Dass | |
sie Veränderung will, kündigte sich langsam an. | |
Der Schnitt: In Spanien gibt es ein Sprichwort: „Jeder Spanier ist sich | |
sein eigener König.“ Soll heißen: Jeder macht sein Ding. Mit Netzwerken | |
habe man es da nicht so. Mitten in der Immobilienkrise 2008 und 2009 | |
brechen Aufträge und Jobs weg, Thielbeer hält es nicht mehr aus. 2014 packt | |
sie ihre Kinder und ein paar Habseligkeiten in ihren uralten Volvo und | |
fährt nach Berlin. | |
Glück und Pech: Freunde von früher besorgen ihr eine Wohnung in | |
Friedrichshain. Läuft, dachte Anusch Thielbeer, auch Jobs und Aufträge | |
werden sicher bald eintrudeln. Aber das Ostberlin von heute war nicht mehr | |
das Ostberlin von nach der Wende. Nach nur drei Wochen wird ihr und den | |
Kindern die Wohnung gekündigt, wegen Eigenbedarf. Die vier stehen auf der | |
Straße. | |
Wieder Glück: Sie bekommt den Tipp, sich bei einer Beratungsstelle für | |
Frauen namens „Frauenraum“ zu melden. Die vermitteln ihr eine | |
Zweizimmerwohnung in einem Frauenwohnprojekt. In einer etwas toten | |
Wohngegend abseits der Friedrichstraße, zwischen Büros, Hotels und der | |
Museumsinsel. Irgendwo da wohnt auch Merkel. Der Kanzlerin begegnet sie | |
nie. Aber sie sieht die Personenschützer vor dem Haus, die schwarzen | |
Limousinen. „Das war ein extremer Kontrast.“ Dort der rote Teppich und sie | |
in einer Miniwohnung mit drei Pubertierenden. „Das war nicht immer leicht, | |
aber wir haben es geschafft.“ Nach acht Monaten findet sie eine neue | |
Wohnung. Und nicht nur das: auch das Atelier. Sie macht da weiter, wo sie | |
vor 18 Jahren aufgehört hat: Sie guckt sich die Leute an und illustriert, | |
was sie sieht. „Ich möchte gelebtes Leben abbilden.“ Berlin ist nicht der | |
schlechteste Ort, um auf packende Motive zu stoßen, findet Thielbeer. | |
Ihr Stil: „Ich male und zeichne vor allem Porträts, aber auch vieles | |
andere. Hin und wieder fotografiere ich. Dafür suche ich Gesichter, die | |
nicht schön im eigentlichen Sinne sind. Ich lasse mich von realen Menschen | |
auf der Straße inspirieren, manchmal spreche ich Leute an, ob ich sie | |
zeichnen dürfte. Meine Illustrationen sind in der Regel rauer als das, was | |
man oft in Büchern und Magazinen sieht.“ | |
Die nächsten Projekte: Corona war zwar ein Einschnitt, der lähmte, aber | |
jetzt hat sie neue Ideen. Sie will ein Buch machen, das „Game Boy“ heißt. | |
Ihr Sohn lieferte die Vorlage. Der zockte, wie so viele Jungs in seinem | |
Alter, stundenlang am Computer. Zuerst nahm sie es zur Kenntnis, dann | |
fragte sie sich, was an diesen Ballerspielen so fesselnd sein soll, später | |
machte sie sich Sorgen. Sie begann, sich intensiv mit der Faszination | |
[3][Computerspiele] zu beschäftigen. Die Geschichte wird fiktiv sein, mehr | |
poetische Betrachtung als Ratgeber. Manchmal sei es gut, die Perspektive zu | |
wechseln. Nicht die Mutter schaut mehr auf den Sohn, sondern die | |
Illustratorin auf ihren Protagonisten. Da komme man zu anderen Lösungen. | |
Wagnis: Thielbeer gehört zu den Menschen, die ans Glück glauben. Und das | |
Leben bestätigt ihr, dass sie damit nicht ganz falsch liegt. Denn neu | |
verliebt hat sie sich auch. Mit ihrem Lebensgefährten, dem Autor Klaus | |
Ungerer, will sie ein Buch über Erotik und Geschlechterrollen entwickeln. | |
Darüber möchte sie jetzt aber kaum etwas verraten. Nur so viel: Es wird | |
kein kluger, kenntnisreicher Aufsatz. | |
20 Dec 2020 | |
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## AUTOREN | |
Simone Schmollack | |
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