# taz.de -- Koalition in Österreich: Grüne in der Moria-Falle | |
> Die Koalition mit der ÖVP von Kanzler Kurz treibt Österreichs Grüne in | |
> eine Identitätskrise. Das zeigt sich vor allem in der Flüchtlingspolitik. | |
Bild: Wien, am 11. September: Demonstration für die Aufnahme von Geflüchteten… | |
Ganze 100 Kinder aus Moria. Soll man eine symbolische Anzahl unbegleiteter | |
Minderjähriger aus dem griechischen Flüchtlingslager aufnehmen oder nicht? | |
An dieser Frage schärfen die [1][Koalitionspartner ÖVP und Grüne] derzeit | |
ihr Profil. | |
Die Grünen appellieren an das Gewissen und fordern eine humanitäre Geste. | |
Von Gewissen spricht auch Kanzler Sebastian Kurz, der bei der ÖVP die Linie | |
vorgibt: Er könne die Aufnahme von Flüchtlingen nicht mit seinem | |
christlichen Gewissen vereinbaren. In seiner Logik würde die Verteilung der | |
Flüchtlinge auf die EU-Mitglieder nur dazu führen, dass sich das geleerte | |
Lager auf Lesbos sofort mit neuen Asylsuchenden füllen würde. Man würde | |
also nur weiteren Menschen Hoffnung machen, dass sie in Europa eine Zukunft | |
haben, und damit das Geschäft der skrupellosen Schlepper befördern. | |
Nicht alle in der ÖVP denken so. Immerhin war die Österreichische | |
Volkspartei ursprünglich die Heimat katholischer Bauern, konservativer | |
Wirtschaftstreibender und aufgeklärter Bürgerlicher. Seit Sebastian Kurz | |
das Erfolgsrezept entdeckt hat, der rechten FPÖ das Wasser abzugraben, | |
indem sie deren dumpfe Parolen etwas netter umformuliert, sind diese | |
bürgerlichen Stimmen großteils verstummt. Und die Umfragen bestätigen, dass | |
der harte Kurs gegen Flüchtlinge bei der Bevölkerung ankommt. | |
Die ÖVP liegt seit Monaten solide drei bis fünf Prozentpunkte über ihrem | |
Ergebnis bei den Nationalratswahlen vor einem Jahr. Deswegen haben es die | |
Grünen auch aufgegeben, weitere Appelle an den Koalitionspartner ergehen zu | |
lassen. Vor den Wahlen in Wien vom 11. Oktober, bei denen die ÖVP ihren | |
Stimmenanteil auf Kosten der durch Ibiza und Spendenskandale geschwächten | |
FPÖ verdoppeln will, ist mit einem Abgehen von den „Grenzen dicht“-Parolen | |
nicht zu rechnen. | |
## Kein Herz für Geflüchtete | |
Da kann der Künstler André Heller noch so eindringlich an den | |
„Sozialrevolutionär Jesus Christus“ erinnern und aus dem Evangelium | |
zitieren, „was ihr dem geringsten meiner Brüder getan, das habt ihr mir | |
getan“, um das katholische Herz des Kanzlers zu erweichen. Da hilft es | |
nichts, dass ÖVP-Bürgermeister und Bürgermeisterinnen sich bereit erklären, | |
Flüchtlingsfamilien aufzunehmen und selbst die katholische | |
Bischofskonferenz an die Regierung appelliert, Nächstenliebe gegenüber den | |
Geflüchteten zu üben. | |
In Österreich wagt es fast niemand, die Verteilung der mehr als 12.000 in | |
Lesbos gestrandeten Flüchtlinge zu fordern. Es ist immer nur von Kindern, | |
vorzugsweise solchen ohne Begleitung, zu reden. Von der völkerrechtlichen | |
Verpflichtung, Asylsuchende vor Krieg oder Verfolgung zu schützen oder dem | |
menschenrechtlichen Gebot, entrechteten Menschen ihre Würde zurückzugeben, | |
ist nicht die Rede. In der Annahme, die ablehnende Stimmung im Land könne | |
man nur mit dem Leiden unschuldiger Kinder umdrehen, haben die Proponenten | |
einer Aufnahme den Menschenrechtsdiskurs weitgehend aufgegeben. | |
Aber auch der Appell ans Herz greift nicht mehr. Eine ÖVP-Innenministerin | |
hatte einst noch Empörung hervorgerufen, als sie versicherte, sie würde | |
sich von den Rehleinaugen einer 15-jährigen Schülerin, die vor der | |
drohenden Abschiebung untergetaucht war, nicht beeindrucken lassen. Das | |
Abfackeln des Lagers Moria durch verzweifelte Bewohner liefert jetzt auch | |
das wohlfeile Argument, dass man Gewalttäter nicht belohnen wolle. | |
Natürlich hat der Kanzler auch recht, wenn er sagt, einem derzeit | |
unbegleiteten Kind würden bald Verwandte folgen. Aber was spricht dagegen, | |
eine Familie statt eines Waisenkindes aufzunehmen? Und der Pull-Effekt ist | |
unter Migrationsforschern äußerst umstritten. Die meisten halten den | |
Push-Effekt, der Menschen aus ihrer Heimat vertreibt, für weit mächtiger. | |
Die Grünen erfahren in der Regierungsarbeit jeden Tag schmerzlich, was es | |
heißt, einem fast dreimal so starken Koalitionspartner ausgeliefert zu | |
sein. In den Regierungsverhandlungen hat sich Kurz sogar eine Klausel | |
ausbedungen, die es ihm erlauben würde, sich in der Migrationsfrage andere | |
Mehrheiten zu suchen, wenn es keine Einigkeit geben sollte. In der Praxis | |
heißt das: Wenn ihr nicht willig seid, dann holen wir uns die FPÖ. Die | |
Grünen müssen sich immer wieder von den Oppositionsparteien SPÖ und Neos | |
provozieren lassen, wenn diese wortwörtlich aus dem Parteiprogramm der | |
Grünen übernommene Passagen zur Abstimmung bringen und dann die | |
Abgeordneten der Ökos verhöhnen, wenn diese aus Koalitionsdisziplin dagegen | |
stimmen müssen. | |
Das bleibt nicht ohne Folgen an der grünen Basis, die zusehends erodiert. | |
Hatte die [2][grüne Regierungsbeteiligung anfangs eine zurückhaltende | |
Euphorie ausgelöst], so macht sich jetzt Ernüchterung breit. Sechs Monate | |
lang hatte das nüchterne Management der Coronakrise durch | |
Gesundheitsminister Rudolf Anschober den Grünen steigende Umfragewerte | |
beschert, so liegen sie jetzt nur mehr beim Wahlergebnis von 14 Prozent. | |
Die zeitweise hinter ihnen rangierende [3][SPÖ hat sich erholt] und selbst | |
die FPÖ droht wieder an ihnen vorbeizuziehen. | |
Immer mehr Basis-Grüne fordern den Bruch der Koalition, der die ständige | |
Selbstverleugnung beenden soll. Das will von den Regierungsmitgliedern und | |
Abgeordneten niemand. Sie verweisen wohl zu Recht darauf, dass die ÖVP ohne | |
Wimpernzucken wieder die FPÖ ins Boot holen und eine noch unmenschlichere | |
Politik durchziehen würde. | |
Um den Koalitionspartner bei Laune zu halten, hat die ÖVP zumindest den | |
Auslandskatastrophenfonds von 25 auf 50 Millionen Euro verdoppelt und | |
gleich eine Lieferung von 55 Tonnen Hilfsgütern wie beheizbare Zelte für | |
ein neues Lager nach Athen gebracht. Innenminister Karl Nehammer (ÖVP) ließ | |
es sich nicht nehmen, den Flug selbst zu begleiten und die in eine | |
rot-weiß-rote Flagge gehüllten Zelte und Decken zu übergeben. Von | |
Inszenierung versteht man was in der ÖVP. | |
21 Sep 2020 | |
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## AUTOREN | |
Ralf Leonhard | |
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