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# taz.de -- Tour de France und Doping: Menschliche Maschinen
> Leistungssteigernde Substanzen gehörten von Anfang an zur Tour de France,
> verboten wurden sie erst später. Vielen Fahrern fehlt dafür das
> Verständnis.
Bild: Notorischer Grenzgänger: Beim Tour-Sieger Jan Ullrich war erstaunlich vi…
Wenn die Tour de France startet, ist es ist schon beinahe ein Reflex in
Deutschland, die Diskussion zu führen, ob man sich dieses Spektakel
überhaupt antun darf. Schließlich, das weiß man ja spätestens seit dem
Sturz [1][des deutschen Radsportheroen Jan Ullrich] im Jahr 2006, ist der
Sport vermutlich unkurierbar von der Pest des Dopings befallen. Die
gegenwärtige Dominanz des Teams Ineos, das von der Struktur und dem
Auftreten her dem früheren Team von Lance Armstrong gleicht, befeuert
zusätzlich solche Vorbehalte.
Bei genauer historischer Betrachtung läuft indes die Trennung zwischen
einem hehren sauberen Radsport und dem Schmuddel des Doping ins Leere.
Doping hat von Anfang an dazugehört, es gab nie einen Radsport ohne. Wovon
der Sport hingegen befallen wurde, waren Moralvorstellungen, denen er
irgendwann zwischen den 70er und den 90er Jahren des vergangenen
Jahrhunderts plötzlich entsprechen sollte.
Der Historiker Christopher Thompson beschreibt in seinem Buch „The Tour de
France – A Cultural History“ die Epoche, in welcher der moderne Radsport
entstand, als Zeit der großen Verunsicherung, insbesondere im Land der Tour
de France. Das nationale Selbstbewusstsein Frankreichs war durch die
Kriegsniederlage gegen Deutschland 1871 angekratzt, die Zeit der Grande
Nation schien vorbei.
Hinzu kamen die neuen Bedrohungen der traditionellen Lebensweise durch die
Industrialisierung. Eine wachsende Mittelschicht brachte neue Formen des
Massenkonsums und der Massenunterhaltung hervor, zu der von Anfang an der
Sport gehörte. Und unter den Showsportarten übte der Radsport eine
besonders große Faszination aus.
## Symptom der Dekadenz
Zwischen 1865 und 1900 entstanden überall im Land Langstreckenrennen wie
Paris–Rouen und Paris–Brest–Paris, Velodrome schossen in jeder Stadt aus
dem Boden. Die Zuschauer wurden von der Geschwindigkeit und den
unglaublichen Distanzen, die die tollkühnen Fahrer zurücklegten, magisch
angezogen.
Für kritische Beobachter war indes damals schon der Radsport Teil des
Problems. Mit seiner Technikgläubigkeit und seiner proletarischen
Anziehungskraft war er ein weiteres Symptom des Niedergangs der alten
Weltordnung und der Dekadenz.
Etwa zur selben Zeit, in der Radrennen als Massenphänomen entstanden,
veröffentlichte der Pädagoge, Historiker und [2][Sportfunktionär Baron
Pierre de Coubertin] eine Reihe von Schriften, in welcher er die
gesellschaftlichen Probleme der entstehenden Industriegesellschaft
beklagte. Er monierte die „grenzenlose Gewinnsucht“ und die „moralische
Unordnung“, die durch eine immer größere Beschleunigung des Lebens
hervorgerufen wurden. Das Heilmittel für all diese Krankheiten der Moderne
war für Coubertin der Sport. Aber nicht irgendein Sport und schon gar nicht
die Spektakelsportarten der Velodrome und der Boxringe.
Coubertin gilt als der Erfinder der modernen Olympischen Spiele. Laut dem
Sportsoziologen Thomas Alkemeyer imaginierte Coubertin die Spiele als „eine
Mimesis der sozialen Praxis der Moderne“. Mit rein pädagogischer Absicht
sollten die Spiele alle Strukturmerkmale der modernen Gesellschaft
besitzen. Nur sollten diese im Sport zur Inszenierung einer Utopie werden.
„Im Hier und Jetzt des vom marktförmig organisierten Alltag deutlich
geschiedenen olympischen Festes sollte der Schein einer besseren Welt
inszeniert werden“, so Alkemeyer.
## Doping als Zeichen des Fortschritts
Die Optimierung der Leistungsfähigkeit – das Höher, Schneller, Weiter – w…
wie in der Industrieproduktion ein Wert an sich. Doch das alles wurde in
einen Zusammenhang der Chancengleichheit, der Fairness, der Zweckfreiheit
und der ökonomischen Interessenlosigkeit gestellt.
Obwohl der Radsport von Anfang an olympisch war, blieb der Profiradsport
lange Zeit von solchen bürgerlichen Vorstellungen des Sports als einer
besseren Welt weitestgehend unbehelligt. Die Tour de France bezog ihren
Reiz alleine aus der extremen Anstrengung. Die Einnahme medizinischer
Hilfsmittel wurde offen toleriert. Sogar Tourgründer Henri Desgrange räumte
ein, dass Substanzen wie Koka bei extremen Ausdaueranstrengungen durchaus
von Nutzen sein könnten.
Wenn der Radsport ein Symbol des Fortschritts war, dann gehörte die
medizinische Unterstützung der Leistung dazu, wie die modernen
Rennmaschinen selbst. Schließlich war die Moderne eine Befreiung des
Menschen von alten Fesseln, eine wortwörtliche Entgrenzung. Das vor allem
faszinierte an der Tour. „Der Fortschrittsgedanke der Moderne setzt den
Menschen selbst als Gegenstand seines Könnens ein – sowohl als Subjekt als
auch als Objekt der Verbesserung“, schreibt der Sportphilosoph Gunter
Gebauer. Der moderne Mensch ist ermächtigt, sich selbst zu erschaffen.
Die Tour de France war ein Theater solcher Selbsterschaffung, ein
Wettbewerb zwischen Maschinenmenschen. Das Doping war dabei ein überaus
nützliches Werkzeug. Doch der Anspruch, eine bessere Welt darzustellen,
holte schließlich auch die Tour ein. Im Zuge einer großangelegten Kampagne
gegen den wachsenden Drogengebrauch in der Gesellschaft erließ das
französische Parlament im Juni 1965 ein Gesetz, das die Einnahme von
Dopingmitteln im Sport untersagte. Vorangegangen waren Zwischenfälle wie
der Kollaps des Fahrers Jean Malléjac am Mont Ventoux im Jahr 1955. Der
offizielle Tourarzt Pierre Dumas hatte es daraufhin auf sich genommen,
etwas gegen den weitverbreiteten Gebrauch von Stimulanzen im Radsport zu
unternehmen. Nicht zuletzt seine Aufklärungskampagne führte zum Entwurf des
Gesetzes.
Die Reaktion der Fahrer auf die ersten Tests bei der Tour 1966 war indes
eindeutig. Man war empört über das „Pissen in Reagenzgläser“, beim Start
der Etappe des 29. Juni schoben die Fahrer ihre Räder aus Protest über die
Startlinie. Die Klagen der Fahrer wendeten sich explizit gegen die
Sondermoral für Sportler. Warum ausgerechnet ihnen verboten werden sollte,
Mittel zu nehmen, die ihnen die Ausübung ihres Berufs erleichterten, war
ihnen schleierhaft.
## Schuld ist der Athlet
Als dann im nächsten Jahr [3][der Brite Tom Simpson] nach der Einnahme von
Amphetaminen am Mont Ventoux starb, fächerte sich die Reaktion bereits
entlang jener Linien auf, die in Deutschland im Jahr 2006 nach dem Sturz
von Jan Ullrich zurückkehrten. Die Kritiker aus dem bürgerlich-liberalen
Lager befanden die Tour de France insgesamt für eine Monstrosität. Le Monde
nannte Simpson ein „rituelles Opfer“ und beschuldigte die Tour der Hybris.
Sie beruhe auf einer „mythischen Auffassung des Sports, der die menschliche
Maschine dazu zwingt, ihre natürlichen Grenzen zu überschreiten“.
Die Tourorganisatoren wälzten derweil die Verantwortung auf Simpson selbst
und dessen verständliche finanzielle Interessen ab. Die Tragödie, so hieß
es damals, sei mitnichten Resultat einer intrinsisch unmenschlichen
Sportveranstaltung. Schuld war nicht das System, sondern der Athlet.
Die Debatte versandete damals so rasch wieder, wie sie entstanden war. Die
Politik zog sich zurück, mit einem Eingriff in die immens populäre Tour
ließ sich kein Staat machen. Man überließ die Jurisdiktion den
Sportverbänden, die so halbherzig gegen das Doping vorgingen, wie man es
von ihnen bis heute kennt. An der Aufdeckung von Skandalen bestand nur
begrenztes Interesse, an einer Grundlagendiskussion über Sinn und Unsinn
eines Spektakels der körperlichen Entgrenzung gar keines.
Erst als im Jahr 1997 die Kommunistin Marie-George Buffet in Frankreich das
Amt der Sportministerin antrat, traute sich der Staat erneut, einzugreifen.
Buffet machte den Kampf gegen Drogen im Sport zur Priorität, verdreifachte
den Anti-Doping-Etat ihres Ministeriums und nahm gezielt die Tour de France
ins Visier. Die Folgen dieser neuen Politik sind als [4][die
Festina-Affäre] in die Sportgeschichte eingegangen. Der Masseur des
Festina-Teams, Willy Voet, wurde vor dem Start der Tour 1998 an der Grenze
festgehalten, im Kofferraum seines Wagens fanden sich Dopingprodukte in
rauen Mengen. Es folgte die Durchsuchung von Mannschaftshotels, Verhaftung
von Fahrern, der Ausschluss des gesamten Teams von der Tour.
Für die französische Linke war die Attacke auf die Tour de France eine
Attacke auf die vermeintliche Verlogenheit des französischen Bürgertums.
Aus der Sicht des Klassenkampfs ist die Tour eine durch und durch
ausbeuterische Veranstaltung. Ein Schauspiel zur Erbauung der Bourgeoisie,
das die Arbeiter der Landstraße an ihre körperlichen Grenzen und darüber
hinaus bringt. Aus dieser Sicht ist die Tour nichts anderes als die
Reproduktion der Auswüchse des Industriekapitalismus.
Die Fahrer wurden zum großen Teil ordentlich entlohnt, ihnen widerfuhr Ruhm
und Anerkennung. Sie wollten nur eines – in Ruhe ihren Job ausüben, ohne
dass nach den Betriebsgeheimnissen gefragt wird.
An der Situation hat sich im Grunde bis heute nicht viel geändert. Gewiss
bekennt sich der Radsport nach außen hin heute lautstark zu Sauberkeit und
einer Moral, die auf einer Ideologie der Chancengleichheit und
Natürlichkeit beruht. Doch im Kern bleiben solche humanistischen
Vorstellungen der Welt der Radrennfahrer fremd. Die künstliche Begrenzung
der Selbsterschaffung, geboren aus demselben modernen Fortschrittsglauben,
der die Tour selbst hervorgebracht hat, bleibt für sie nur schwer
nachzuvollziehen.
28 Aug 2020
## LINKS
[1] /Aufstieg-und-Fall-eines-Radsportidols/!5692322
[2] /Pierre-de-Coubertins-Notizen/!5660078
[3] /50-Todestag-von-Radprofi-Tom-Simpson/!5426267
[4] https://www.sueddeutsche.de/sport/radsport-tour-skandal-1998-festina-affaer…
## AUTOREN
Sebastian Moll
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Doping im Spitzensport
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