# taz.de -- Armenisches Model Armine Harutyunyan: Kleine Revolution auf dem Lau… | |
> Harutyunyan bricht mit Schönheitsidealen und steht für ein modernes | |
> Armenien. Doch seit ihrem Auftritt bei Gucci erfährt sie viel Hass im | |
> Netz. | |
Bild: Das armenische Model Armine Harutyunyan während der Fashion Week in Mail… | |
Mädchen mit Elefantenohren“ oder „krumme Schnauze“: Solche Beleidigungen | |
musste sich Armine Harutyunyan während ihrer Schulzeit häufig anhören. | |
Leicht war es für sie nicht, doch heute zeigt sie ihre große Nase und ihre | |
buschigen Augenbrauen stolz in der Öffentlichkeit. Im September vergangenen | |
Jahres präsentierte die Armenierin sogar die Frühling-Sommer-Kollektion | |
2020 von Gucci auf der Mailänder Fashionweek. Ein Erfolg für Armenien, | |
freuen sich viele. Doch seitdem wird das Model auch mit Hasskommentaren in | |
sozialen Netzwerken bombardiert – vor allem in Italien. Wie auch schon zu | |
Schulzeiten arbeiten sich Menschen an ihrem Körper ab, der [1][nicht den | |
normierten Schönheitsidealen entspricht.] | |
Die 24-Jährige wohnt in der armenischen Hauptstadt Jerewan, ist Künstlerin, | |
Grafikdesignern – und Model. Früher hätte sie sich nie vorstellen können, | |
dass sie mit ihrem Aussehen jemals über einen Laufsteg gehen würde. Doch | |
geträumt hat sie schon immer davon. Genauso wie einmal auf einer Bühne zu | |
stehen. So ging sie schon als Sechsjährige zum Ballett, spielte Klavier und | |
sang in einem Chor. Später studierte sie Bühnenbild. | |
Doch wie kam sie auf den Laufsteg von Gucci? „Ich habe nie aufgegeben, an | |
meine Träume zu glauben“, sagt Armine Harutyunyan der taz. „Und daran war | |
auch Berlin schuld.“ Im Frühling 2019 flog sie in die deutsche Hauptstadt, | |
um ein Konzert ihrer Lieblingsband, der südkoreanischen Gruppe Hyukoh, zu | |
besuchen. Auf der Straße wurde sie von einem Modelscout angesprochen und | |
fotografiert. Kaum zurück in Jerewan, bekam sie einen Anruf und flog nach | |
Mailand. Bei dem Casting wurde schnell klar: Harutyunyan wird für Gucci | |
laufen. Sie konnte es nicht fassen. „Ich war so begeistert, so viele neue | |
Erfahrungen, ich war immer kurz davor, in Tränen auszubrechen“, sagt sie. | |
Harutyunyan hatte es als Mädchen nicht leicht. „Ich wurde in der Schule | |
ständig gemobbt. Meine Schulkamerad*innen haben mein Handy und meine | |
Schulsachen geklaut, um mich zu ärgern und sich über mich lustig zu | |
machen“, erzählt sie. Als sie 18 Jahre alt war, wollte sie sich einer | |
plastischen Operation unterziehen. „Ich dachte mir, dass nur ein solche | |
Eingriff mein Leben retten könne“, sagt sie. Vor allem ihre große | |
„Adlernase“ mochte sie nicht. | |
## 40.000 Nasen-OPs | |
Als „Adlernase“ bezeichnen viele Armenier*innen humorvoll ihre Nase. Ein | |
bekannter Witz geht folgendermaßen: Als Gott die Armenier*innen einst | |
fragte, welche Nase er ihnen geben solle, und er ihre Gegenfrage, ob diese | |
umsonst sei, bejahte, antworteten sie: „Dann gib uns die größte!“ | |
Doch Humor ist nicht für alle die Lösung. Etwa 40.000 Nasenoperationen | |
werden Schätzungen zufolge jedes Jahr in Armenien durchgeführt. Eine enorme | |
Zahl bei nur knapp drei Millionen Einwohner*innen, wobei auch viele extra | |
aus dem Ausland anreisen. Denn Jerewans plastische Chirurg*innen zählen | |
seit dem Ende der Sowjetunion zu den Besten ihres Fachs. Privatkliniken und | |
öffentliche Krankenhäuser bieten eine Nasenoperation zu einem Preis von | |
umgerechnet 450 bis 1.700 Euro an – ein Schnäppchen im internationalen | |
Vergleich. | |
Meistens sind es junge Frauen, die ihre Nasen korrigieren lassen. Denn in | |
der patriarchalen armenischen Gesellschaft gilt eine ansehnliche kleine | |
Nase als vorteilhaft auf dem Heiratsmarkt und im Berufsleben. Überall im | |
Stadtbild findet man junge Mädchen mit einem Nasengips – ein untrügliches | |
Anzeichen für eine kürzlich vorgenommene Korrektur. | |
Großes Vorbild für die jungen Frauen sind dabei US-amerikanische Promis wie | |
die armenisch-stämmige Influencerin Kim Kardashian und ihre Familie. Sie | |
lassen sich regelmäßig in ihrer alten Heimat blicken und treten dort vor | |
Zehntausenden begeisterten Armenier*innen auf. | |
Karen Danielyan, einer der berühmtesten Nasenchirurgen Armeniens, hat gar | |
unter dem Motto „Wer hat die größte Nase Armeniens“ einen alljährlich | |
stattfindenden Wettbewerb ausgelobt, dessen Gewinnerin ihre Nase kostenlos | |
bei ihm operieren lassen darf. | |
## Mit der Kunst Komplexe überwunden | |
„Furchtbar“, sagt Harutyunyan. Das Model lehnt heute alle | |
Schönheitsoperationen ab, weil diese die armenischen Frauen ihrer Identität | |
berauben würden. Doch bis Harutyunyan ihre Nase lieben lernte, dauerte es | |
seine Zeit. | |
Als Kind wuchs sie vor allem bei ihren Großeltern auf. Ihr Großvater | |
Khachatur Azizyan und ihre Großmutter Svetlana Sargsyan gehören zu den | |
bekanntesten zeitgenössischen Maler*innen Armeniens, die auch international | |
bekannt sind. Im Zentrum ihrer Kunst steht die Frau – sehr oft nackt oder | |
halbnackt. Sie malen Frauen, die oft nicht dem Schönheitsideal in der | |
armenischen Gesellschaft entsprechen – unter anderem ihr Enkelkind. Beide | |
ermutigten sie, ihre Schönheit und Persönlichkeit zu akzeptieren und mit | |
ihr zu leben. „Dank meiner Großeltern habe ich diese Komplexe überwunden. | |
Ich kann mich jetzt lieben, wie ich bin. Vor allem meine Großmutter brachte | |
mir bei, frei zu leben und frei zu denken“, sagt Harutyunyan. | |
Und auch heute gibt es Künstler*innen, die sich mit der Schönheit des | |
armenischen Models auseinandersetzen. „Die Bedeutung von Schönheit hat sich | |
verändert, weil die Welt sich verändert hat. Armine ist vielleicht der | |
Schlüssel, um das zu verstehen“, sagt Manuel Fazzini im Gespräch mit der | |
taz. Der 34-jährige Modedesigner und Illustrator aus Rom versucht, mit | |
seiner Kunst den Blick auf Schönheit zu weiten. Er hat Harutyunyan mit | |
Pastellfarben gemalt. | |
Nach dem Shitstorm in sozialen Medien zeigen sich Dutzende Künstler*innen | |
aus Italien mit dem Model solidarisch – auf etwa 100 Bildern, | |
Illustrationen, Graffiti und Skulpturen sind Harutyunyans Augenbrauen zu | |
sehen– lustig, traurig oder ernst – doch immer buschig. Harutyunyan lacht | |
darüber. Sie freut sich auch über die kuriosen Darstellungen. | |
## Sexistische Hasskommentare von überall | |
Ihr Auftritt bei Gucci hat eine kleine Revolution in Armenien ausgelöst. | |
„Das hässliche Mädchen“ ist nun nicht nur eine der bekanntesten, sondern | |
auch eine der beliebtesten Persönlichkeiten in ihrer Heimat geworden. Auf | |
der Straße und in Cafés in Jerewan wollen Menschen sich mit ihr | |
fotografieren lassen. „Wir haben der Welt ein armenisches Wunder | |
geschenkt“, schreibt sogar Anna Hakobyan, die Frau des armenischen | |
Premierministers, auf ihrer Facebookseite. | |
Und doch: Die konservative Gesellschaft im Südkaukasus ist nicht über Nacht | |
tolerant geworden. Konzepte wie „Body Positivity“ kommen hier nicht vor. Es | |
ist eher der armenische Nationalstolz, der viele Armenier*innen in solchen | |
Superlativen schwärmen lässt. Auch Armine Harutyunyans Erfolgsgeschichte | |
vermag bislang nicht das traditionelle Schönheitsideal zu verändern – weder | |
in ihrer Heimat noch in der gesamten Region. | |
Sexistische Hasskommentare bekommt sie auch aus dem Nachbarland Georgien. | |
„O Gott, dieses armenische Modelmädchen ist sehr hässlich“, schreibt der | |
ehemalige Justizminister und heutige Fernsehjournalist Nika Gvaramia bei | |
Facebook. Auch in einer bekannten türkischen Comedyshow musste das Model | |
viel Häme über sich ergehen lassen. Die Show beschränkte sich nicht nur auf | |
frauenfeindliche Witze, sondern befeuerte auch eine antiarmenische | |
Stimmung, [2][die seit dem türkischen Völkermord an den Armenier*innen] | |
1915 in der türkischen Gesellschaft tief verwurzelt ist. | |
Und nicht nur ihr Aussehen scheint zu provozieren. [3][Auf ihrem | |
Instagram-Profil] posiert Harutyunyan in der Fotoserie „Ave Sunstroke“ | |
(Sonnenstich) mit einer römischen Geste – dem nach oben gestreckten Arm. | |
Sie trägt dabei goldenen Kopfschmuck in antikem römischem Stil und einen | |
Lorbeerkranz. Dennoch unterstellen ihr viele Instagram-Nutzer*innen, sie | |
zeige den faschistischen Gruß von Mussolini, und kritisieren sie stark. | |
Doch wieso zieht das junge Model so viel Hass auf sich? Ist es Neid und | |
Missgunst der anderen oder die Intoleranz gegenüber jemandem, der bewusst | |
mit den armenischen Traditionen bricht? | |
Harutyunyan ist das egal. Sie will nicht gegen die Beleidigungen und den | |
Hass gegen sie vorgehen und hat beschlossen, all das einfach zu ignorieren. | |
Damit mehr Kraft für Positives bleibt und sie sich auf ihre Arbeit | |
konzentrieren könne. Ihren nächsten großen Fashionauftritt dürfe sie zwar | |
noch nicht ankündigen. „Aber er kommt bald“, sagt sie. | |
15 Sep 2020 | |
## LINKS | |
[1] /Kolumne-Fremd-und-befremdlich/!5550700 | |
[2] /Tuerkei-und-Voelkermord-an-den-Armeniern/!5680917 | |
[3] https://www.instagram.com/p/CBXbwkpn9Eu/?utm_source=ig_web_copy_link | |
## AUTOREN | |
Tigran Petrosyan | |
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