# taz.de -- Giftanschlag auf Agenten Sergei Skripal: Der Vorläufer | |
> Das Gift Nowitschok wurde schon 2018 beim Anschlag in England vom | |
> russischen Geheimdienst benutzt. Was lässt sich von Großbritanniens | |
> Vorgehen lernen? | |
Bild: Ein Spezialteam am 13. März 2018 in Salisbury unweit der Bank, auf der d… | |
Am 4. März 2018, an einem Sonntagnachmittag, fanden Passanten in der | |
englischen Kleinstadt Salisbury einen Mann und eine junge Frau bewusstlos | |
auf einer Parkbank und holten Hilfe. Was als einfacher Notruf begann, | |
entwickelte sich innerhalb weniger Wochen zu einer der größten | |
diplomatischen Krisen in der Beziehung wischen dem Westen und Russland seit | |
Ende des Kalten Krieges. Und aus heutiger Sicht ist es eine lehrreiche | |
Vorversion dessen, was Deutschland im Zuge des Giftanschlags auf den | |
russischen Oppositionellen [1][Alexei Nawalny] bevorstehen könnte. | |
Die beiden Erkrankten von Salisbury waren Sergei Skripal, ein in | |
Großbritannien aufgenommener Überläufer des russischen Geheimdienstes, und | |
seine aus Moskau zu Besuch angereiste Tochter Julia. Die Ärzte stellten | |
Vergiftungen fest, sowohl bei den beiden als auch bei einem der | |
herbeigerufenen Polizisten. Ermittlungen und Tests ergaben eine Vergiftung | |
mit einem Nervenkampfstoff aus der Nowitschok-Gruppe. | |
Als „Nowitschok“ – russisch: Neuling – wird eine in der Spätphase der | |
Sowjetunion entwickelte Reihe hochgiftiger chemischer Kampfstoffe | |
bezeichnet, die noch unregistriert war, als die internationale | |
Chemiewaffenkonvention mit ihrem weltweiten Verbot bestehender chemischer | |
Waffen 1997 in Kraft trat. Es sind binäre Kampfstoffe, also aus zwei | |
jeweils für sich unverdächtigen Substanzen bestehend, die erst direkt vor | |
dem Einsatz kombiniert werden und deren einzelne Bestandteile deshalb | |
problemlos hergestellt, gelagert und transportiert werden können. | |
Seit ein russischer Wissenschaftler 1992 die Struktur der | |
Nowitschok-Kampfstoffe veröffentlicht hatte und dafür ins Exil gehen | |
musste, waren sie in Fachkreisen bekannt. Zu Sowjetzeiten soll es zwei | |
Forschungs- und Produktionsstätten für Nowitschok gegeben haben: | |
Schikhani in Russland und Nukus in Usbekistan. Nukus, das seit Ende der | |
Sowjetunion brachlag, wurde 1999 mit US-Hilfe abgebaut und | |
dekontaminiert. Schikhani blieb in Betrieb. Was dort geschah, ist nicht | |
bekannt. | |
## Seit November 2019 auf der Verbotsliste | |
Salisbury markierte den Eintritt von Nowitschok aus der Theorie in die | |
Wirklichkeit. Deswegen ist es ein Einschnitt in der Geschichte der | |
internationalen Waffenkontrolle. Die internationale Organisation für das | |
Verbot chemischer Waffen (OPCW) nahm Nowitschok aufgrund des | |
Skripal-Attentats im November 2019 in ihre Verbotsliste auf. Ein von | |
Russland verübtes Nowitschok-Attentat auf Nawalny wäre also nicht nur ein | |
Verbrechen, sondern auch der erste Bruch eines internationalen | |
Waffenkontrollabkommens über ABC-Waffen durch eine Großmacht – | |
völkerrechtlich vergleichbar mit dem Zünden einer Atombombe und politisch | |
von ähnlicher Sprengkraft. | |
Im Fall Skripal spielte die OPCW eine zentrale Rolle. Auf britische Bitte | |
hin reiste ein OPCW-Team nach Salisbury, nahm eigene Proben, untersuchte | |
sie in vier unabhängigen Laboren und kam zu einem eindeutigen Schluss: Die | |
Analysen, so die öffentliche Kurzfassung des Abschlussberichts von April | |
2018, „bestätigen die Befunde des Vereinigten Königreichs bezüglich der | |
Identität der in Salisbury verwendeten toxischen Chemikalie“, deren Name | |
und Struktur genau zu nennen dem vertraulichen Gesamtbericht vorbehalten | |
blieb. Das Team „merkt an, dass die toxische Chemikalie von hoher Reinheit | |
war“. | |
Eine andere Möglichkeit als die, dass die Chemikalie aus einem staatlichen | |
Chemiewaffenlabor stammte, war damit so gut wie ausgeschlossen. Da kein | |
anderes Land außer Russland Programme zur Entwicklung von | |
Nowitschok-Kampfstoffen besaß, war damit aus britischer Sicht die | |
Täterschaft geklärt. Moskau wies Bitten der OPCW um Aufklärung über | |
Nowitschok mit dem Hinweis auf das Fehlen dieser Kampfstoffe auf der | |
C-Waffen-Verbotsliste zurück und sprach von „Kampagne“ und „Hysterie“.… | |
politische Flurschaden war immens. | |
Innerhalb weniger Tage nach Vorlage der ersten britischen | |
Ermittlungsergebnisse durch Premierministerin Theresa May im Parlament am | |
12. März 2018 wiesen 29 Länder 153 russische Diplomaten aus – die größte | |
Massenausweisung dieser Art in der Geschichte. May war als anerkannte | |
Sicherheitspolitikerin genau die Richtige, um im Fall Skripal westliche | |
Solidarität zu mobilisieren und jene politische Härte zu zeigen, die ihr in | |
anderen Angelegenheiten wie etwa beim Brexit fehlte. | |
## Seltener Moment der Geschlossenheit | |
Für Großbritannien war die Affäre Skripal inmitten der Brexit-Zerwürfnisse | |
ein seltener Moment nationaler Geschlossenheit. Nie stellte sich | |
Labour-Chef Jeremy Corbyn so weit ins politische Abseits wie mit seinen | |
Zweifeln an der russischen Täterschaft. | |
Die Affäre Nawalny dürfte in Deutschland kaum dieselbe Wirkung entfalten: | |
Die Freundschaft mit Moskau geht in der Politik bei vielen tief, von der | |
Linken über Teile der SPD bis zur AfD – aus völlig unterschiedlichen | |
Motiven, was die Entwicklung einer einmütigen Haltung unmöglich macht. Die | |
deutsche Russlandpolitik wird stärker von tief sitzenden Interessen und | |
Emotionen als von einzelnen Ereignissen geprägt. | |
Die Vergiftung der Skripals – beide leben jetzt unter neuer Identität in | |
Australien – war dabei nur der erste Akt der Affäre. Der zweite Akt war der | |
Tod von Dawn Sturgess. Die junge Engländerin fand mit ihrem Freund am 30. | |
Juni 2018 in Salisbury ein altes Parfümfläschchen und probierte den Inhalt | |
auf ihrem Handgelenk aus. Sie und ihr Freund landeten im Krankenhaus, mit | |
derselben Vergiftung wie die Skripals. Sturgess starb. Der Anschlag hatte | |
ein indirektes Todesopfer gefordert. | |
Der dritte Akt war die Identifizierung der mutmaßlichen Täter. Am 3. | |
September 2018 präsentierte die britische Polizei ihre | |
Ermittlungsergebnisse. Demnach waren am 2. März zwei Russen mit Pässen auf | |
die Namen Alexander Petrow und Ruslan Boschirow nach London geflogen. Sie | |
besuchten Salisbury am 3. und erneut am 4. März, bevor sie abends nach | |
Moskau zurückflogen. Die Polizei hatte die beiden schon früh als | |
Verdächtige ausgemacht und in ihrem Londoner Hotelzimmer Nowitschok-Spuren | |
gefunden. Videoaufnahmen von Überwachungskameras zeigten sie in der Nähe | |
von Skripals Haus in Salisbury, mehrere Kilometer von der touristischen | |
Altstadt entfernt. Sie hätten, so die Polizei, beim ersten Besuch die Lage | |
ausgespäht und beim zweiten das Gift an Skripals Haustürgriff angebracht. | |
Während sich die beiden in einem peinlichen Auftritt im russischen | |
Fernsehen als harmlose Touristen präsentierten, bewiesen die von den Briten | |
veröffentlichten Aufnahmen ihrer Pässe bei der Einreise, dass sie fast | |
identische Passnummern hatten, aus einer Serie, die der russische | |
Militärgeheimdienst GRU ausstellt. Weitere Ermittlungen enthüllten | |
„Boschirow“ als GRU-Oberst Anatoli Tschepiga und „Petrow“ als | |
GRU-Militärarzt Alexander Mischkin. Ein dritter GRU-Agent mit Erfahrung in | |
Auslandsoperationen, Denis Sergejew, hielt sich vom 2. bis 4. März in | |
London auf und traf sich mit den beiden. Detaillierte Belege | |
veröffentlichte die Investigativplattform Bellingcat zusammen mit | |
russischen Investigativmedien. | |
## Eine Affäre mit Folgen | |
Seit diesen Veröffentlichungen sind die russischen Dementiversuche | |
verstummt. Die britische Staatsanwaltschaft hat gegen „Petrow“ und | |
„Boschirow“ Anklage erhoben, dass es einen Prozess geben wird, ist jedoch | |
unwahrscheinlich. Die Affäre Skripal ist polizeilich weitgehend aufgeklärt | |
– und zugleich zu den Akten gelegt. Das Attentat auf Nawalny, das in | |
Russland selbst verübt wurde und dessen Hergang daher nicht von deutschen | |
Behörden ermittelt werden kann, wird hingegen wohl nie aufgeklärt werden. | |
Die politischen Folgen der Affäre Skripal wirken in Großbritannien weiter | |
nach. Eine parlamentarische Untersuchung des russischen Einflusses im Land | |
wurde eingeleitet und erstattete vergangenen Juli Bericht. Neue Gesetze | |
ermöglichen ein gezielteres Vorgehen gegen illegal angelegtes | |
Fluchtkapital. Die Öffentlichkeit ist verunsichert: Wie kann es sein, dass | |
russische Agenten unbemerkt und straflos gegen Exilrussen auf der Insel | |
vorgehen? Warum ist London eine Geldwaschanlage für den obszönen | |
Milliardenreichtum russischer Oligarchen? | |
Das Verhältnis zu Russland steht auf der britischen politischen Agenda – | |
weit über die normale Außenpolitik hinaus. Und der Fall Skripal prägt die | |
Wahrnehmung: Es gibt kein Vertrauen mehr zu Moskau, die Beziehung ist auf | |
Dauer vergiftet. | |
In Deutschland steht diese Debatte noch am Anfang. Anders als in | |
Großbritannien war das deutsche Verhältnis zu Russland jedoch schon immer | |
ein politisches Kernthema. Eine grundsätzliche Debatte über die | |
Konsequenzen des Nawalny-Attentats in Deutschland dürfte politisch noch | |
folgenreicher werden als in Großbritannien – zumal Nawalny eine öffentliche | |
Figur ist und sein Schicksal auch in Russland ein Politikum. Gleichzeitig | |
dürften hierzulande aber auch die Widerstände gegen einen härteren Umgang | |
mit Russland größer sein. | |
4 Sep 2020 | |
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## AUTOREN | |
Dominic Johnson | |
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