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# taz.de -- Abgehängte Pflegeheim-BewohnerInnen: Weh dem, der im Rollstuhl sit…
> Viele BewohnerInnen Bremer Pflegeheime bleiben isoliert: Auf eine Nacht
> Ausgang steht Quarantäne und richtig dumm dran ist, wer einen Rolli
> braucht.
Bild: Zum Stillsitzen gezwungen: PflegeheimbewohnerInnen im Rollstuhl
Bremen taz | Eigentlich müsste Michaela Babitzkes Sohn zweimal in der Woche
zur Ergotherapie. Der 33-Jährige lebt in der Bremer Einrichtung „ViaVita“,
einem Pflegewohnbereich für Menschen im Alter von 20 bis 60 Jahren mit
schweren neurologischen Leiden. Bloß: Ihr Sohn sitzt im Rollstuhl und den
dürfen wegen der zurzeit geltenden Hygienevorschriften nur ausgewählte
Personen „bedienen“.
Aufgrund des Abstandsgebotes, so Babitzke, dürften nämlich nur Verwandte
ersten Grades ihre Angehörigen im Rollstuhl bewegen. Sie selbst darf also
ihren Sohn aus dem Zimmer schieben, mit ihm spazieren gehen oder ihn zur
Ergotherapie bringen. „Ich bin aber berufstätig und habe keine Zeit, ihn
zweimal in der Woche zur Therapie zu bringen“, sagt sie. Und andere
Angehörige ersten Grades gebe es nicht.
Das Pflegepersonal hat ebenfalls keine Zeit: Die Personaldecke ist wegen
Corona noch ausgedünnter als ohnehin schon, hinzu kommt Mehrarbeit, denn
zusätzlich zu ihren normalen Aufgaben müssen die Pfleger*innen alle
Besucher*innen registrieren, Zimmer regelmäßig und aufwendig desinfizieren
und weitere Tätigkeiten ausüben, die mit den strengen Hygienevorschriften
aufgrund der Coronapandemie zusammenhängen. „Normalerweise dürfen Bewohner
ja auch wieder Besuch auf ihren Zimmern empfangen“, so Babitzke, „aber die
Pflegekräfte motzen, dass sie nachher dann wieder alles desinfizieren
müssen.“ Zeit, um ihre Sohn zusätzlich auch noch zur Ergotherapie zu
bringen, hat niemand.
Die Mitarbeitenden in der Einrichtung seien überfordert, das zeige sich
auch an Mängeln in der Pflege: „Die Bewohner werden trotz der Hitze nur
einmal in der Woche geduscht, auf Mundhygiene wird kaum geachtet“, so
Babitzke. Aktivierende Pflege fehle mittlerweile gänzlich. Ihr Sohn, der
eigentlich stehen könne, werde ausschließlich mit einem Lifter
transportiert, „weil das schneller geht“.
## „Anlassbezogene Prüfung“ angekündigt
Auch andere Angehörige von Bewohner*innen der Einrichtung kritisieren
Mängel. Eine davon, Bahar Yavasoglu, berichtete am [1][vergangenen Dienstag
bei „Report Mainz“] über die Situation ihres pflegebedürftigen Ehemannes.
Ihre Erfahrungen bestätigt Babitzke: „Mein Sohn hat seit dem Lockdown immer
weiter abgebaut.“
Die Einrichtung bestritt gegenüber „Report Mainz“ pflegerische Defizite,
räumte aber ein, dass „einige Therapien während der Quarantäne“ – also…
der Zeit, als nicht einmal Angehörige in die Einrichtungen durften – nicht
durchgeführt werden konnten, „um das Risiko einer möglichen Ansteckung für
unsere Mitarbeiter*innen und Bewohner*innen so gering wie möglich zu
halten.“ Da die bei der Sozialsenatorin angesiedelte [2][Wohn- und
Betreuungsaufsicht] unterdessen aber einige Beschwerden über die
Einrichtung erhalten hat, soll diese nun laut Behördensprecher David
Lukaßen einer „anlassbezogenen Prüfung“ unterzogen werden.
Das Problem mit der Ergotherapie scheint indes gelöst: „Gestern wurde eine,
auch mit dem Gesundheitsamt abgestimmte, Lösung gefunden, die den wichtigen
Besuch bei der Ergotherapie sicherstellt“, so Lukaßen am Mittwoch. Aber was
ist mit all den anderen Pflegeheimbewohner*innen, die ebenfalls auf den
Rollstuhl angewiesen sind? Auch für jene müssten aus Sicht der
Sozialbehörde bessere Lösungen gefunden werden, sagt Lukaßen. Zuständig sei
aber die Gesundheitsbehörde. Dort heißt es, man erkenne die Problematik
zwar, dennoch müsse der Infektionsschutz an erster Stelle stehen.
Nicht nur Menschen, die auf den Rollstuhl angewiesen sind, bleiben trotz
Lockerungen der Besuchsregelungen in weiten Teilen isoliert: „Wenn ein
Bewohner aus dem Krankenhaus oder der Reha kommt, muss er zwei Wochen lang
in Quarantäne“, berichtet Babitzke. Ihr sei der Fall eines Mannes bekannt,
der innerhalb kurzer Zeit zweimal ins Krankenhaus musste: „Als er zum
zweiten Mal in die Klinik kam, befand er sich noch in Quarantäne aufgrund
des ersten Krankenhausaufenthalts. Und nun ist er schon wieder isoliert –
und das, obwohl er negativ auf Corona getestet wurde.“
Das komme durchaus öfter vor, sagt Reinhard Leopold, Regionalsprecher des
[3][Pflegeschutzbundes Biva] und Gründer der Bremer Angehörigen-Initiative
[4][„Heim-Mitwirkung]“. Heim-Bewohner*innen seien sogar unter Quarantäne
gestellt worden, nachdem sie von einem Familienbesuch oder einem
Spaziergang zurück in die Einrichtung gekommen seien. „Es kann ja nicht
sein, dass Rückkehrer aus Risikogebieten bei Vorlage eines negativen Test
nicht in Quarantäne müssen, Bewohner von Pflegeheimen aber in jedem Fall
isoliert werden“, sagt er.
## Gesundheitsbehörde findet Quarantäne sinnvoll
Die Verhängung von Quarantäne durch eine Pflegeeinrichtung sei
rechtswidrig, sagt Leopold. Denn die Empfehlungen des Robert-Koch-Instituts
(RKI) seien keine verbindlichen Regelungen, sondern lediglich Richtlinien.
Quarantäne-Maßnahmen könnten auf Basis des Infektionsschutzgesetzes nur vom
Gesundheitsamt verhängt werden. Eine Pflegeeinrichtung selbst könne und
dürfe das nicht.
Allerdings, so heißt es aus der Sozialbehörde, folgten die Pflegeheime
durchaus der Gesundheitsbehörde, die nämlich die Richtlinien des RKI
ausdrücklich empfehle. „Frau Stahmann und unser Ressort werben dafür, im
Rahmen der Teststrategie zu einer Änderung dieser Praxis zu kommen“, sagt
Behördensprecher Lukaßen. „Personen sollten unseres Erachtens beim Zugang
getestet und dann nach zwei Tagen noch einmal getestet werden. Wenn sie
negativ getestet worden und symptomfrei sind, sollte es keine Quarantäne
geben.“
„Beim Zugang getestet“ werden sollte auch nach dem Willen des
Gesundheitsamtes, sagt Lukas Fuhrmann, Sprecher der Gesundheitsbehörde.
Allerdings, räumt er ein, dies sei nicht Teil der Corona-Rechtsverordnung.
Und: Die in den Einrichtungen verhängte Quarantäne ist in seinen Augen
sinnvoll, „da sich die Bewohner*innen in einer höchst vulnerablen Umgebung
befinden“.
21 Aug 2020
## LINKS
[1] https://www.swr.de/report/kontrollverlust-in-pflegeheimen-welche-folgen-hat…
[2] /Bremer-Pflegeheime-ohne-Kontrolle/!5692667
[3] https://www.biva.de/
[4] http://www.heim-mitwirkung.de/
## AUTOREN
Simone Schnase
## TAGS
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Bremen
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