Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Pflege in Coronakrise: Außenkontakte als Luxus
> 60 Prozent aller Covid-19-Toten lebten in Altenheimen oder wurden
> gepflegt. Dennoch wird der Bereich gesundheitspolitisch alleingelassen.
Bild: Besuch in einem Altenheim
Frau D. hat sich in den letzten Jahren intensiv um ihre Mutter gekümmert.
Das private Altenheim, in dem die alte Dame untergebracht ist, zählt nicht
zu den teuren Adressen. Trotzdem reicht bei 1.800 Euro monatlichen Kosten
die Rente nicht, die Tochter zahlt also zu. Und weil das Heim personell
unterbesetzt ist, hat Frau D. selbst bei der Pflege geholfen.
In den letzten Monaten aber durfte sie das Gebäude nicht mehr betreten.
Sechs Wochen lang galt eine totale Kontaktsperre, es gab einen Coronafall
im Haus. Die Mutter ist immobil, sie saß allein in ihrem Zimmer. Auch jetzt
können sie sich nur durch Plexiglas auf der Terrasse sehen und miteinander
sprechen. Das soll nach Mitteilung der Heimleitung mindestens bis zum Ende
des Jahres so bleiben. Geschichten wie die von Frau D. sind keine
Seltenheit. Die Beschränkungen werden zwar langsam gelockert, aber viele
Heime bleiben weitgehend zu. Und in der Öffentlichkeit ist von den
Erfahrungen, die Hunderttausende Menschen in der Isolation machen mussten
und müssen, kaum etwas zu hören.
Die Coronakrise verstärkt die bekannten Mängel bei der Organisation und der
Finanzierung von Heimen in Deutschland. Sie betreffen etwa 750.000
Menschen, die in einem der rund 14.000 vollstationären Pflegeheime wohnen.
Von diesen waren 83 Prozent über 65 Jahre, die Hälfte über 85 Jahre alt.
730.000 Beschäftigte arbeiten in den voll- und teilstationären
Einrichtungen der Altenpflege. Hinzu kommen 355.000 Beschäftigte bei den
14.000 ambulanten Pflegediensten – so der Datenbericht Altenpflege der
Bundesregierung. Sie alle – HeimbewohnerInnen, Beschäftigte und
Institutionen – mussten seit März lernen, in der neuen Coronawelt zu leben.
In der Pandemie haben die Staaten um der Gesundheit willen die Grundrechte
in einem Umfang beschränkt, der als beispiellos gelten kann. In Heimen
gestalten die jeweiligen Leitungen das Leben der BewohnerInnen in allen
Einzelheiten. Sie haben – gemeinsam mit den Gesundheitsämtern – dafür
gesorgt, dass sie nach außen abgeschottet wurden und werden. Der Schutz vor
der Seuche hat die Machtbalance weiter verschoben.
Dabei sind viele Heime vor allem völlig überfordert. Das Ansteckungsrisiko
erschwert die Pflegearbeit, und pro Besuch, so rechnet ein Heimleiter in
Schleswig-Holstein vor, müsse ein Mitarbeiter für 40 Minuten freigestellt
werden, um dafür zu sorgen, dass die Sicherheitskleidung korrekt angelegt
und die Abstandsregelungen eingehalten werden. Außenkontakte der
Bewohnerinnen werden so zum Luxus, den man sich angesichts des Notstandes
kaum leisten zu können meint. Menschliche Nähe, zum Leben und Überleben
unverzichtbar, wird zum Kostenfaktor.
Das Dilemma belastet alle Beteiligten. Und es ist lebensgefährlich. Gut 50
Prozent aller Coronatoten in Deutschland, mehr als 5.250 Menschen, waren
nach einer aktuellen Studie der Universität Bremen BewohnerInnen von Alten-
und Pflegeheimen, obwohl deren Anteil an der Bevölkerung unter einem
Prozent liegt. Nimmt man die ambulant Betreuten hinzu, ergibt sich ein
Anteil von mehr als 60 Prozent. Das Erkrankungsrisiko des Pflegepersonals
liegt sechsfach über dem des Bevölkerungsdurchschnitts.
Helfen könnten regelmäßige Tests aller Beteiligten. Als in Paderborn Anfang
April aufgrund einer Initiative von ÄrztInnen des örtlichen Praxisnetzes
die 2.167 MitarbeiterInnen von Pflegeheimen getestet wurden, war das
Ergebnis beunruhigend. Insgesamt acht Personen in fünf Einrichtungen, die
als frei von Corona gegolten hatten, waren infiziert. In einem Heim hatte
sich das Virus bereits weiter verbreitet. Das Robert-Koch-Institut schlug
deshalb vor, regelmäßige prophylaktische Reihentests bei
Heim-MitarbeiterInnen zu prüfen. Und auch die Bremer Ergebnisse weisen in
diese Richtung: Danach gingen die hohen Erkrankungszahlen auf
vergleichsweise große Ausbrüche in relativ wenigen Einrichtungen zurück.
Trotzdem sind prophylaktische Tests noch immer die Ausnahme. Bisher mussten
sämtliche Corona-Mehrkosten von den Heimen selbst getragen werden. In den
letzten Monaten wurde deshalb viel improvisiert, und in manchen
Einrichtungen läuft das Personal noch immer mit geschenkten Schutzanzügen
aus landwirtschaftlichen Betrieben oder selbst genähten Schutzmasken durch
die Räume. Gegenüber den empfohlenen FFP2-Masken haben solche Provisorien
ein deutlich schlechteres Schutzniveau. Dabei wissen alle Beteiligten, dass
Pflegearbeit mit Abstandsgeboten nur begrenzt vereinbar ist.
Inzwischen hat die Politik das Problem zwar wahrgenommen, gelöst ist es
aber noch längst nicht. Nach einer Verordnung des
Bundesgesundheitsministeriums müssen die Krankenkassen künftig die Kosten
auch für präventive Reihentests übernehmen. Die Laborkapazitäten würden das
erlauben: Von 866.000 pro Woche möglichen Tests wurden zuletzt nur 280.000
abgerufen.
Das Hin-und-Herschieben der Kostenverantwortung ist trotzdem nicht vorbei.
Ob die seit Wochen geforderten und jetzt von den Bremer Forscherinnen mit
Zahlen begründeten Reihentestungen tatsächlich zum Bestandteil der
Sicherheitskonzepte für die Heime werden, entscheiden auch künftig die
örtlichen Gesundheitsämter. Bis dort entsprechende Strategien entwickelt
werden, kann es dauern.
Reihentestungen würden ein Schritt ins Freie ermöglichen – hin zu
Konzepten, die endlich eine für alle erträgliche Balance zwischen
menschlicher Nähe und Sicherheit herstellen. Damit der Schritt gelingt,
müssten die Menschen in den Heimen endlich die öffentliche Aufmerksamkeit
erfahren, die ihnen zusteht. Pflegeeinrichtungen sind Orte, auf die viele
lieber nicht schauen. Nur hängt das Wegschauen mit der Mangelsituation der
Heime und der Corona-Sterblichkeit auf verstörende Weise zusammen.
16 Jun 2020
## AUTOREN
Roland Schaeffer
## TAGS
Schwerpunkt Coronavirus
Schwerpunkt Coronavirus
## ARTIKEL ZUM THEMA
Pflegekräfte in der Coronakrise: Ich habe diesen Job geliebt
Die Pandemie offenbart die Schwierigkeiten des Pflegesystems mehr denn je.
Unser Autor schreibt, warum er nicht mehr als Pfleger arbeiten kann.
Abgehängte Pflegeheim-BewohnerInnen: Weh dem, der im Rollstuhl sitzt
Viele BewohnerInnen Bremer Pflegeheime bleiben isoliert: Auf eine Nacht
Ausgang steht Quarantäne und richtig dumm dran ist, wer einen Rolli
braucht.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.