# taz.de -- Pflege-Aktivist über Corona: „Das größte Problem ist die Angst… | |
> Corona hat vor allem verdeutlicht, welche Probleme es in der Pflege schon | |
> seit vielen Jahren gibt, sagt der Bremer Pflege-Aktivist Reinhard | |
> Leopold. | |
Bild: Abgeschottet von der Außenwelt: So sieht die Realität in manchen Altenh… | |
taz: Herr Leopold, was war für Sie das Schlimmste im Jahr 2020? | |
Reinhard Leopold: Drei Sachen: Corona, Corona und Corona. Im Speziellen | |
waren die Auswirkungen auf die Menschen in den Pflegeeinrichtungen | |
natürlich am schlimmsten. Aber nicht nur dort, sondern auch im ambulanten | |
Pflegebereich war es schlimm. Dort herrschen mindestens die gleichen | |
Probleme wie in der stationären Pflege, wenn nicht sogar noch größere. | |
Inwiefern noch größere? | |
Pflegende Angehörige arbeiten ja teilweise oder sind aus anderen Gründen | |
tagsüber ein paar Stunden nicht da – in dieser Zeit übernehmen dann | |
Pflegedienste. Und da sind teilweise extreme Mängel aufgetreten. Die Bremer | |
Pflegedienst-Betreiberin Andrea Hugo hat Ende November [1][einen offenen | |
Brief] an Gesundheitsminister Spahn geschrieben, in dem sich widerspiegelt, | |
wie schlimm die Situation ist. Und die war, genauso wie in den | |
Einrichtungen, bereits vor Corona schlecht: Es fehlt an Personal und | |
Material. | |
Was hat sich im ambulanten Pflegebereich seit Ausbruch der Pandemie | |
verändert? | |
Die Situation hat sich genauso verschärft wie in den Pflegeeinrichtungen: | |
Auch dort gibt es höhere Krankenstände, auch dort gibt es Ausgebranntheit, | |
also viele Mitarbeitende, die einfach nicht mehr können oder aufgrund der | |
Situation sogar komplett dem Beruf den Rücken kehren. | |
Sie kümmern sich eigentlich um die Betroffenen in stationärer Pflege – wie | |
kam es dazu, dass Sie sich nun auch der ambulanten Pflege zuwenden? | |
Die Bereiche sind ja nicht von einander trennbar, weil es meist einen | |
fließenden Übergang von der häuslichen zur stationären Pflege gibt. Aber | |
die meisten Beschwerden kommen eigentlich aus den stationären | |
Einrichtungen, weil dort die Restriktionen gegenüber den Angehörigen und | |
die Einschränkungen ihrer Rechte am schärfsten sind und man sich am | |
wenigsten wehren kann. Die Ängste vor Repressalien ist sehr groß. | |
Wieso ist das so? | |
In den Einrichtungen kann es zum Beispiel passieren, dass Angehörige | |
Hausverbot bekommen, wenn sie zu „aufmüpfig“ sind und konsequent ihre | |
Rechte einfordern. Im ambulanten Bereich findet hingegen vieles im | |
Verborgenen statt. Viele pflegende Angehörige empfinden sich auch gar nicht | |
als pflegend, sondern einfach als helfende Kinder oder Eheleute – und | |
wissen insofern gar nicht, an wen sie sich bei Problemen wenden könnten. | |
Womit hatten Menschen, deren Angehörige in Heimen leben, in diesem Jahr | |
besonders zu kämpfen? | |
Die meisten Beschwerden drehten sich um die Frage: Muss ich es mir | |
eigentlich bieten lassen, dass ich wegen Corona meinen Angehörigen nicht | |
mehr sehen darf? Das ging ja von der völligen Abschottung von Einrichtungen | |
bis hin zum Einsperren der Pflegebedürftigen in ihren Zimmern. Angehörige | |
durften teilweise nicht einmal von draußen durchs Fenster schauen, weil die | |
Pflegekräfte mutwillig die Vorhänge zugezogen haben. | |
Welche Erklärung gibt es für so ein Verhalten? | |
Auffällig ist, dass das primär dann praktiziert wurde, wenn Angehörige sich | |
eigentlich kümmern, wenn sie also eigentlich positiv und unterstützend da | |
sein wollen. Offenbar wird das in Zeiten der Pandemie aber so empfunden, | |
dass diese Angehörigen nur zusätzlich Zeit kosten. Die Mitarbeitenden sind | |
hochgradig belastet und wenn Angehörige viele Fragen stellen, kann es schon | |
mal passieren, dass da unwirsch reagiert wird. Sehen Angehörige, dass | |
beispielsweise keine Logopädie und Physiotherapie stattfindet oder dass die | |
Leute einfach im Bett gelassen werden, dann ist das natürlich auch mit | |
Schwierigkeiten für die Einrichtung verbunden. | |
Waren und sind die Kontaktbeschränkungen in den Einrichtungen angemessen? | |
Naja, das größte Problem mit Corona ist ja die Angst. Denn sie lähmt und | |
verschließt die Augen vor anderen Möglichkeiten. In den Pflegeeinrichtungen | |
ist die Angst riesengroß, dass Besucher das Virus mitbringen. Die | |
Mitarbeitenden blenden aber aus, dass sie ja selbst das Virus jeden Tag | |
mitbringen könnten. Angehörige sagen mir immer wieder: Wir sind doch | |
wahrscheinlich diejenigen, die die Hygienevorschriften am strengsten | |
befolgen, weil wir ja schließlich nicht unsere Liebsten anstecken wollen. | |
Hat man denn aus den harten Maßnahmen im Frühjahr Lehren gezogen? | |
Teilweise ja, aber manche Einrichtungen finden nach wie vor, dass das | |
komplette Aussperren von Besuchern die beste Lösung ist. Man muss das aber | |
auch aus Sicht der Pflegenden sehen: Bereits vor Corona gab es schon einen | |
immensen Personalmangel, das ist ja seit Jahrzehnten so. Und seit Corona | |
erkranken nicht nur die Pflegebedürftigen, sondern auch die Pflegekräfte, | |
oder sie müssen in Quarantäne. Die Situation ist schlimmer als zuvor. | |
Welche Konsequenzen hat das für die Pflegebedürftigen? | |
Manche werden nicht mehr mobilisiert. Menschen mit Demenz werden | |
eingeschlossen, denn Demenz geht ja teils mit einem hohen Laufdrang einher. | |
Die Einrichtungen stehen vor der Wahl, dem mit der chemischen Keule, also | |
mit Medikamenten, zu begegnen oder das Zimmer abzuschließen. Diese Dinge | |
werden offiziell natürlich nicht mitgeteilt, mir haben das aber | |
verschiedene Pflegekräfte anvertraut. | |
Gibt es da noch mehr Dinge, die Pflegende Ihnen anvertraut haben? | |
Ja. Interessant ist hier die Online-Umfrage, die ich Mitte des Jahres für | |
die Heim-Mitwirkung gemacht habe. Da haben über die Hälfte der | |
Teilnehmenden angegeben, dass in ihren Einrichtungen trotz immensen | |
Personalmangels keine Leiharbeitskräfte mehr eingesetzt werden. Es gab den | |
Hinweis eines Leiharbeit-Anbieters, der mir sagte, dass ihm bis zu 80 | |
Prozent seiner Aufträge weggebrochen seien. | |
Der Grund lag ja darin, dass der Gesundheitsminister die | |
Personal-Untergrenzen in den Einrichtungen wegen Corona ausgesetzt hat... | |
Genau – und das war gar keine gute Idee. Denn hier haben Heimbetreiber, vor | |
allem die privaten, sehr schnell erkannt, dass sie Geld sparen können. | |
Was hat Ihre Umfrage sonst noch ergeben? | |
Ich habe gefragt, welche Auswirkungen Corona auf die Pflegenden hat. Die | |
Antworten lauteten: psychische Belastung, zeitlicher Stress, körperliche | |
Erschöpfung, schlechter Schlaf, keine Pausen, Angst vor Pflegefehlern und | |
rechtlichen Auseinandersetzungen. Die Frage, ob es bereits negative | |
Auswirkungen auf Patienten gegeben habe, hat knapp die Hälfte bejaht, knapp | |
40 Prozent machten dazu keine Angaben. Und eine Pflegende berichtete, dass | |
sie und ihre Kollegen bis zum ersten Corona-Fall in ihrer privaten Kleidung | |
arbeiten mussten – dort gab es bis dahin nicht einmal Arbeitsbekleidung. | |
Was geschieht mit Pflegepersonal, das Missstände meldet? | |
In der Regel berichten die Mitarbeiter nicht intern über Mängel. Die Ängste | |
vor den Kollegen und den Vorgesetzten sind zu groß. Mir ist ein Fall | |
bekannt, wo ein Einrichtungsbetreiber die komplette Belegschaft | |
rausgeschmissen hat, weil die zur Heimaufsicht und an die Öffentlichkeit | |
gegangen ist, nachdem ihre Beschwerden beim Betreiber erfolglos geblieben | |
waren. | |
Aber müssten die Pflegenden angesichts des riesigen Fachkräftemangels nicht | |
am längeren Hebel sitzen? | |
Dafür muss man diese Berufsgruppe mit anderen vergleichen, zum Beispiel mit | |
Piloten: Die sind hochdotiert und sehr respektiert und dementsprechend groß | |
ist ihr Selbstbewusstsein. Bei Pflegekräften sind die Arbeitssituation und | |
die Unterbezahlung Gründe dafür, dass sie sich schlichtweg nicht trauen. | |
Und dann arbeiten in diesen Berufen vor allem Frauen, die neben dem Job | |
noch Kinder und teilweise auch pflegebedürftige Angehörige zu versorgen | |
haben. Da herrschen Druck und Existenzängste und das wird sich solange auch | |
nicht ändern, bis es für sie gute Bezahlung und gute Arbeitsbedingungen | |
gibt. | |
Ist Corona hier eine Chance? Immerhin war die Pflege noch nie so im Fokus | |
wie seit Ausbruch der Pandemie. | |
Zumindest in Bremen gibt es augenscheinlich Bewegung. Es gibt hier ja schon | |
länger das Bestreben, einheitliche Tariflöhne zu zahlen und es ist völlig | |
unverständlich, dass die Politik nicht schon längst Maßnahmen beschlossen | |
hat gegen die Pflege-Anbieter, die da nicht mitmachen wollen. Das ist im | |
Mai aber endlich geschehen: Die Bürgerschaft hat beschlossen, auf | |
Landesebene gesetzlich zu verankern, dass Investitionsmittel für | |
Pflegeanbieter künftig an den Tarif gekoppelt werden sollen. Ich habe aber | |
auch das Gefühl, dass viele Menschen zwar Corona-bedingte Probleme in der | |
Pflege wahrnehmen, aber immer noch nicht die strukturellen Probleme. | |
Dennoch glaube ich, dass der öffentliche Druck ein wenig gestiegen ist. Es | |
bleibt zu hoffen, dass es endlich eine andere und bessere Finanzierung im | |
Pflegebereich geben wird. Der Pflege-Notstand muss beendet werden – dann | |
sind auch Pandemien besser handhabbar. | |
30 Dec 2020 | |
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## AUTOREN | |
Simone Schnase | |
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