Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Die Wahrheit: Eine Überdosis Sonntolin
> Welche Rolle spielt eigentlich Gott im Spiel des angeblich geheiligten
> Sonntags, der doch nichts anderes ist als die Hölle auf Erden?
Bild: Sonntagsausflug
Sonntag ist das Synonym für entspanntes Nixtun. Oder? Hat nicht schon der
Herrgott verfügt, dass sein zappeligstes Produkt gefälligst alle sieben
Tage Ruhe geben soll? Wie schlau von ihm! Gott war der erste
Gewerkschafter, der dafür sorgte, dass seine Ameisen nicht 24/7 ausgenutzt
wurden. Denn er ist gnädig. Inzwischen weiß ich, dass es sich beim
Weltenherrscher um einen fiesen Kollaborateur der Kapitalisten handelt. Er
zeigt seinem Volk nur aus Bosheit, wie es ist, einen ganzen Tag lang bei
der Familie auszuhalten. So führt er uns in die Hölle, damit wir uns
montags begeistert in die Arme der Maloche werfen.
Als ich jung war, starteten meine Wochenenden gleich mit dem Höhepunkt: der
Aussicht auf ewige Freizeit, vielleicht sogar auf eine Party am
Freitagabend. Der Samstag war dann immer noch einigermaßen voller Schwung
und Genuss. Lange aufbleiben! Das Beste überhaupt! Der Sonntag schließlich
gerann zu einem Gemisch aus Tantenbesuch und Lähmung. Manchmal gab es einen
Ausflug, zu dem ich praktisch nie Lust hatte. Einmal lief ich mit offenen
Schnürsenkeln 100 Meter dem Familienauto hinterher, weil meine Eltern meine
Weigerung, mit ihnen an die See zu fahren, ernst genommen hatten.
Eine Weile endete der Sonntag für mich erst spät, weil ich nach dem
Zubettgehen wieder aufstehen musste, um die Rechenaufgaben noch zu
erledigen, mit denen ich mir zuvor das kostbare Wochenende nicht hatte
versauen wollen. Doch das versaute sich ganz von selbst, mit jener Substanz
namens Sonntolin, die beinahe jeden Sonntag wie Blei über alles Leben rann
und es einfror. Es führte dazu, dass ich als junge Journalistin freiwillig
Sonntagsdienste übernahm, um dem Monster zu entkommen. Mit Arbeit ließ sich
selbst der ödeste Tag der Woche ganz gut aushalten.
Nach meinem Umzug auf das Land merkte ich, dass Sonntolin ein eher
städtisches Phänomen ist – der regelmäßige Shutdown alle sieben Tage ist
auf dem Dorf viel weniger zu spüren, weil erstens auch an den anderen sechs
Tagen nichts Nennenswertes los ist und sich zweitens die Landwirtschaft
nicht um heiliggesprochene Tage scheren kann, sondern nur ums Wetter.
Irgendwo lärmt also immer ein Traktor oder eine Säge herum und simuliert
Leben.
Dennoch breiten sich auch hier die verkaufsoffenen Sonntage und die
wochenendlichen Herbst-, Frühjahrs- und Irgendwasmärkte aus. Das lähmt
mich. Hinter jedem Marmeladenbüdchen und jedem Sockenstand grinst mich eine
veritable Sonntagsdepression an, die ein Opfer sucht. Mich.
Mein persönlicher Betreuer, genannt der Liebste, weiß um meine labile
Wochenendverfassung und lockt mich darum manchmal hinaus. Oft tue ich mich
schwer damit, auch wenn er mich nicht hinter dem Auto herlaufen lässt. Denn
ich bin leider sehr müde, weil ich samstags einfach lange aufbleiben
musste. Warum? Was für eine blöde Frage. Weil Wochenende ist, natürlich.
9 Sep 2020
## AUTOREN
Susanne Fischer
## TAGS
Kolumne Die Wahrheit
Sonntag
Jugend
Identität
Kolumne Die Wahrheit
Kolumne Die Wahrheit
Schwerpunkt Coronavirus
Internet
Urlaub
Schwerpunkt Coronavirus
## ARTIKEL ZUM THEMA
Die Wahrheit: Die Identität der Leberwurst
An alle Susannes: wir sind Opfer eines Stereotyps, das Menschen mit anderen
Vornamen leichtfertig tradieren, ohne es selbst zu bemerken.
Die Wahrheit: Das härteste Weihnachten seit 2019
Wohin bloß mit all der jahresendzeitlich bedingten Energie des
Traditionalismus? Was soll man kaufen? Wo? Und für wen?
Die Wahrheit: Im weißen Haus von Spatzenhausen
Nicht nur in Washington tobt ein brutaler Kampf um die Macht. Auch
andernorts werden alle erdenklichen Mittel eingesetzt.
Die Wahrheit: Wir basteln uns eine Buchmesse
Warum sentimental werden, wenn in Frankfurt die wichtigste Veranstaltung
der Buchbranche ausfällt? Es gibt doch einen Ersatz.
Die Wahrheit: Deep Talk mit Gesichtsbehaarung
Wer sich bei Hitze durchs Netz klickt, gerät in Paralleluniversen, deren
Algorithmen auch nicht mehr das sind, was sie nie waren.
Die Wahrheit: Wo andere keinen Urlaub machen
Wohnen, wo andere sonst höchstens durchfahren. Großes Erstaunen, wenn im
Sommer mal jemand für Ferien verweilt.
Die Wahrheit: Neuartiger Mist in der Provinz
Obwohl alle zu Hause bleiben, wird viel gefahren – zumindest in der Sprache
der Krise. Da sind die Unterschiede zwischen Land und Stadt nicht groß.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.