# taz.de -- Interaktive Unterhaltung: Ein Gefühl von Macht | |
> Mitmachen ohne mitzuspielen: Immer öfter können Zuschauer:innen die | |
> Handlung von Filmen und Serien aktiv beeinflussen. | |
Bild: Ellie Kemper (Kimmy Schmidt) und Daniel Radcliffe (Frederick) in „Kimmy… | |
Welches Brautkleid soll ich auf meiner Hochzeit tragen? Oder wahlweise | |
auch: Soll ich meinen Vater umbringen? Zuschauer:innen interaktiver Filme | |
treffen kleine und große Entscheidungen über den Ablauf der Geschichte und | |
werden so eingebunden. | |
Interaktive Filme sind im Grunde Videospiele. Die Entwicklung der | |
Laserdisk-Technologie 1961 ermöglichte eine interaktive Steuerung im Spiel. | |
Der Weltraum-Railshooter „Astron Belt“ (Sega) und das Actionspiel „Dragon… | |
Lair“ (Bluth Group) aus 1983 sind die ersten Beispiele des Genres. | |
Interaktives Storytelling ist darüberhinaus eine Literaturgattung, etwa die | |
„Choose Your Own Adventure“-Bücherreihe für Jugendliche, die in den 1970er | |
und 80er Jahren sehr beliebt war, mit einer Verkaufsauflage von 265 | |
Millionen Exemplaren. Aber auch die Bühne kann interaktiv sein. Die | |
Theatergruppe Signa produziert etwa nur interaktive Stücke, die die | |
aktuellen moralischen Debatten der Zeit darstellen sollen. Das Wort | |
„interaktiv“ setzt hierbei eine Handlung der Konsumierenden voraus: Damit | |
die Geschichte weitergehen kann, muss meist eine Reaktion oder eine | |
Entscheidung stattfinden. | |
Während die Interaktion bei Spielen oder Büchern dieses Genres absolut | |
notwendig sein kann – in einem Buch zum Beispiel muss man nach der Auswahl | |
zum angegebenen Kapitel wechseln –, kann der interaktive Film so | |
vorprogrammiert werden, dass Zuschauer:innen nicht zwingend eine Wahl | |
treffen müssen. Eine vorausgewählte Option wird am Ende der paar Sekunden, | |
die den Zuschauer:innen für die Auswahl zur Verfügung stehen, automatisch | |
aktiviert, und die Handlung geht weiter. So kann das Eingebundenheitsgefühl | |
getrübt sein. | |
## Ein Ende oder mehrere? | |
Inwieweit sich die Zuschauer:innen eingebunden fühlen, hängt etwa von der | |
Häufigkeit der Interaktion, der Relevanz der getroffenen Auswahl und der | |
Zahl der Auswahlmöglichkeiten ab. Je öfter und tiefer man Einfluss auf die | |
Handlung nehmen kann, desto besser. | |
Einer der neusten interaktiven Filme ist „Unbreakable Kimmy Schmidt vs. The | |
Reverend“, der diesen August auf Netflix erschien. Es ist die Fortsetzung | |
der [1][Comedyserie „Unbreakable Kimmy Schmidt“]. Kimmy (Ellie Kemper) | |
steht kurz vor ihrer Hochzeit, und findet ein mysteriöses Buch in ihrem | |
alten Rucksack. Sie macht sich auf die Suche nach dem Reverend, der sie und | |
weitere Frauen jahrelang einsperrte und misshandelte, um herauszufinden, | |
was es mit dem Buch auf sich hat. Ob sie es rechtzeitig zu ihrer Hochzeit | |
schafft? | |
Die Zuschauer:innen werden ab und an vor die Wahl gestellt zwischen zwei | |
oder mehreren Optionen: Wer soll Kimmy auf ihrer Reise begleiten? Soll ihr | |
guter Freund Titus (Tituss Burgess) in der Karaokebar den richtigen oder | |
falschen Song singen? Die Handlung läuft nach dem sogenannten Flussdiagram | |
ab, das bedeutet, viele der Auswahlmöglichkeiten sind lineare Pfade, von | |
denen nicht alle relevant sind für die gesamte Handlung. Nach bestimmten | |
Szenen wird der Film automatisch ein wenig zurückgespult, und man muss | |
dieselbe Szene mehrfach schauen, bis man endlich die richtige Entscheidung | |
trifft. Denn es gibt nur ein Ende. | |
Wenn man mit der Erwartung, Einfluss auf die Handlung nehmen zu können, an | |
„Unbreakable Kimmy Schmidt vs. The Reverend“ herangeht, wird man also | |
enttäuscht. Die irrelevanten Optionen fühlen sich an wie Fußnoten oder eine | |
Special Edition mit herausgeschnittenen Szenen: Man kann sie haben, muss | |
aber nicht. | |
## Zuvor nur für Kinder | |
Interessant wurden interaktive Filme für [2][Netflix nach ihrem weltweiten | |
Erfolg] mit „Bandersnatch“ im Jahr 2018. Der Streamingdienst bot damals | |
zwar bereits weitere interaktive Filme an, diese richteten sich aber an | |
Kinder. Doch „Bandersnatch“ kam bei erwachsenen Zuschauer:innen so gut an, | |
dass der Produkt-Vizepräsident Todd Yellin einige Monate nach dem Release | |
ankündigte, weitere interaktive Filme anzubieten. „Bandersnatch“ ist Teil | |
der „Black Mirror“-Anthologie. | |
Der Film handelt von der Entstehungsgeschichte des gleichnamigen | |
Videospiels im Jahr 1984. Die Handlung läuft hier in einer Baumstruktur: | |
Zuschauer:innen werden gefragt, was der Protagonist Stefan Butler (Fionn | |
Whitehead) zum Frühstück essen, oder ob er seine Therapeutin besuchen soll. | |
Bestimmte Handlungen geben einen neuen Pfad und später neue Entscheidungen | |
frei. Es gibt fünf unterschiedliche Enden. Der Film dauert zwar 90 Minuten, | |
allerdings stehen den Zuschauer:innen insgesamt etwa fünf Stunden | |
Filmmaterial zur Verfügung. Es handelt sich also um einen größeren | |
Produktionsaufwand. | |
Außerdem beinhaltet „Bandersnatch“ eine Metaebene, auf der Butler ein | |
Gefühl von Kontrollverlust über seine Handlungen entwickelt, worüber er auf | |
Therapiesitzungen spricht: Ein weiteres Mittel für das | |
Eingebundenheitsgefühl. [3][Die Serie „Black Mirror“] thematisiert, welche | |
Nebenwirkungen unsere Technologiesucht hat. So auch hier, indem den | |
Zuschauer:innen das Gefühl vermittelt wird, durch Technologie Einfluss auf | |
das Leben eines echten Menschen nehmen zu können. | |
## Realistische Charaktere | |
Wer sich abseits von Netflix mehr Kontrolle über die Protagonist:innen bzw. | |
die Handlung wünscht, ist bei „Beyond: Two Souls“ richtig. Für Quantic | |
Dream entwickelte David Cage das Spiel im Jahr 2013 für Playstation 3, | |
dessen Grafik 2019 für den PC verbessert wurde. Die Gesichtszüge der | |
Darsteller:innen Ellen Page (Jodie Holmes) und William Dafoe (Nathan | |
Dawkins) wurden ins Spiel übertragen. Es handelt sich bei „Beyond: Two | |
Souls“ um das erste Videospiel, bei dem die Mimik so realistisch ist wie | |
man es sonst nur von Spielfilmen kennt. Das macht die Erfahrung so | |
außergewöhnlich und die Charaktere realitätsnah. | |
Jodie hat die Gabe (und den Fluch), seit ihrer Geburt an mit dem | |
unsichtbaren Wesen Aiden zu leben. Nur sie kann mit ihm kommunizieren. Von | |
ihrer Kindheit an begleiten Gamer:innen Jodies Leben in unterschiedlichen | |
Abschnitten, sie trainieren, kämpfen und erleben mit. Die längeren | |
Filmsequenzen machen es eher zu einem interaktiven Film als einem | |
gewöhnlichen Konsolenspiel. Man kann Ja/Nein-Fragen beantworten, zum | |
Beispiel, ob Jodie mit dem Jungen, den sie auf einer Geburtstagsparty | |
kennenlernt, sprechen und flirten soll. | |
Darüber hinaus muss man Jodie durch Flucht- oder Kampfsituationen steuern. | |
Dabei kann man zwischen Jodie und Aiden wechseln – und manchmal muss man, | |
um weiterzukommen. | |
Wie bereits erwähnt sind interaktive Filme historisch betrachtet und per | |
Definition Videospiele, in die Filmaufnahmen eingebaut werden, durch die | |
sich ein roter Faden zieht. Daher dürfte jede:r Gamer:in über die erstaunte | |
Presse nach „Bandersnatch“, die den Film als „das neue Ding“ präsentie… | |
schmunzeln. Doch letztendlich spielt es vielleicht keine große Rolle, wie | |
man ein Produkt nennt, solange es unterhält. | |
30 Aug 2020 | |
## LINKS | |
[1] /2-Staffel-Unbreakable-Kimmy-Schmidt/!5292783 | |
[2] /Nominierungen-fuer-Fernsehpreis-Emmy/!5699432 | |
[3] /Black-Mirror-pausiert-in-Corona-Krise/!5681712 | |
## AUTOREN | |
Sibel Schick | |
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