# taz.de -- Theologe über das Retten von Büchern: „Wahnsinn der Vermüllung… | |
> Seit der Wende rettet der Pfarrer Martin Weskott Bücher vor dem Müll. | |
> Damit will er auch die Literatur der DDR ehren. | |
Bild: Rettet nahezu alle Bücher vor der Müllkippe: Martin Weskott | |
taz: Gibt es Bücher, die Sie nicht retten wollen, Herr Weskott? | |
Martin Weskott: Alle, die sehr trivial sind. In letzter Zeit gab es das | |
aber nicht. | |
Die Bandbreite der von Ihnen geretteten Bücher ist enorm: von Goethe über | |
Stefan Heym hin zu Sachbüchern über Hubschrauber der NVA. | |
Der Hubschrauber-Band hat dokumentarischen Wert. Er lag zusammen mit | |
Ansprachen bei den Montagsdemonstrationen auf einem Band der | |
Papieraufbereitungsanlage Thräna. Das Arrangement zusammen mit den | |
Ansprachen bildet das ganze Spektrum des Transformationsprozesses ab. | |
Aber wenn es Ihnen um Dokumentation geht: Zeigt die Trivialliteratur nicht, | |
wie sich Menschen zu einer bestimmten Zeit ablenken? | |
Das ist richtig. Aber Sie müssen sehen, wie groß die Kapazitäten sind, um | |
Bücher mitzunehmen. | |
Heute lagern Sie die Bücher in einer alten Burganlage. War diese Dimension | |
von Anfang an klar? | |
Nein, das hat sich Stück für Stück entwickelt. Seit 2008 sind wir in der | |
ehemaligen Steinscheune des Katlenburger Ensembles. | |
Ist seitdem Platz keine Kategorie mehr für Sie? | |
Doch inzwischen schon. Wir haben jetzt über 50.000 Bücher. Der Raum muss | |
für diejenigen, die die Bücherburg besuchen, noch überschaubar sein. Man | |
muss sich Zeit nehmen und etwas entschleunigen. | |
Warum hat es Sie so umgetrieben, als Sie 1991 die Bilder der Bücher auf dem | |
Müll in Plottenburg bei Leipzig sahen? | |
Es ist mir sozusagen in die Wiege gelegt worden. Dadurch, dass ich Theologe | |
bin, habe ich viel mit Büchern zu tun. Die Bibel ist auch eine Bibliothek | |
von Büchern. | |
Sie haben mehrere Fächer studiert: Theologie, Soziologie, Philosophie und | |
Geschichte – aber nicht Literaturwissenschaft. | |
Durch die Lesungen der Müll-Literaten, deren Werke wir, also etwa 15 | |
Ehrenamtliche und ich, auf dem Müll aufgelesen haben, hat man eine Schule, | |
die fast über die Universität hinausgeht. Durch die Vorbereitung liest man | |
die Bücher der Autoren und im Gespräch stellt man Fragen, die in einem | |
Seminar vielleicht gar nicht zustande kommen. | |
Hatten Sie schon vor 1991 einen Bezug zur DDR-Literatur? | |
Zu den Größen wie Christa Wolf, Volker Braun und Christoph Hein schon. Wir | |
hatten in der Kirchengemeinde schon vorher eine öffentliche Büchereiarbeit | |
gemacht, die eigentlich Aufgabe einer Kommune ist. Im Rahmen dieser Arbeit, | |
die von vielen Ehrenamtlichen mitgestaltet wurde, haben wir auch Lesungen | |
veranstaltet und dort hat auch ein bestimmter Teil der DDR-Literatur eine | |
Rolle gespielt. | |
Sie hatten auch durch Ihren Großvater, der in der DDR lebte, ein Verhältnis | |
zu diesem Staat. | |
Mein Großvater ist 1966 leider ziemlich früh gestorben, aber ich habe seine | |
Arbeit als Pastor noch sehr lebendig bei Urlauben erleben können, ich habe | |
ihn da begleitet. | |
Haben Sie da auch schon die nicht immer einfache Rolle von Kirche in der | |
DDR wahrgenommen? | |
Natürlich – durch meinen Großvater selbst, der uns gerne in Westdeutschland | |
besucht hätte. Das war bei Frauen erst ab 60 und bei Männern ab 65 Jahren | |
möglich. | |
Und die Einschränkungen als Pastor? | |
Er hatte Einschränkungen wie jeder Pfarrer und jede Pfarrerin dort, so | |
wurden etwa seine Predigten beobachtet. Aber er hat mit großer Energie die | |
frohe Botschaft verkündet und das getan, was möglich war. Und er hatte zwei | |
Gemeinden, die ihm da viel geholfen haben, da gab es sicher auch andere. | |
Die DDR-Literatur hatte ja für den westlichen Blick auch die Facette der | |
staatlichen Zensur. Warum sammeln Sie da nicht selektiv nur die | |
nicht-konformen Stimmen? | |
Diese Wirklichkeit gehört zur DDR-Wirklichkeit dazu. Was mich vor allem | |
interessiert, ist, inwieweit in der Literatur der DDR die Brüche der | |
Gesellschaft sichtbar werden. Da gibt es nach meiner Meinung noch sehr viel | |
zu entdecken: Ich arbeite an einer anderen Literaturgeschichte der DDR. | |
Was soll die zu Tage fördern? | |
Ich habe den Eindruck, dass in der Literaturwissenschaft viel – und | |
durchaus mit einigem Recht zu der Zeit – Gewicht gelegt wurde auf | |
diejenigen, die auch im Westen abgedruckt worden sind. Aber dass es eben | |
auch viele Werke gegeben hat, in denen bestimmte Tabuthemen zur Sprache | |
gekommen sind, was in Westdeutschland nicht wahrgenommen worden ist. Und | |
was über den deutsch-deutschen Literaturstreit... | |
... dem Streit um die politische Rolle von DDR-SchrifstellerInnen wie | |
Christa Wolf... | |
... noch mal verschüttet worden ist. Man hätte, so wie wir das in | |
Katlenburg mit der Lesereihe gemacht haben, erst einmal eine Lektüre | |
betreiben sollen, und die hat in der Breite der DDR-Literatur im Westen | |
kaum stattgefunden. Dann hätte man im kritischen Gespräch Fragen stellen | |
können und müssen. | |
Was für übersehene Brüche und Tabuthemen meinen Sie? | |
Viele Autoren, die in den Literaturgeschichten gar nicht auftauchen, haben, | |
auch in relativ hohen Auflagen, publizieren können, wenn auch unter | |
Schwierigkeiten. Zum Beispiel Winfried Völlger, der ein Buch geschrieben | |
hat, „Das Windhahn-Syndrom“, das sehr gut die Situation in der | |
Chemie-Industrie, aber auch in der alternativen Szene in der DDR und den | |
Hunger nach anderen Welten erzählt. Das Buch ist vor drei Jahren noch | |
einmal aufgelegt worden, aber es hat nie die Resonanz gefunden, die | |
notwendig wäre. | |
Sind Sie angesichts der Erbitterung des Literaturstreits angefeindet worden | |
für Ihren Einsatz für die DDR-Literatur? | |
Eigentlich nie. Vielleicht war ich für einige nicht so ein | |
Gesprächspartner. | |
Wollen Sie ein Stück literarische Gerechtigkeit schaffen? | |
Es ist einfach ein Versuch, die bisherige Wahrnehmung zu ergänzen. Ich habe | |
einen Aufsatz dazu geschrieben: „Vernachlässigte und übersehene Texte der | |
DDR“ mit einer Angabe von etwa 40 Titeln, die ich zu diesem Kanon zählen | |
würde. | |
Kommen die BesucherInnen der Bücherburg wegen solcher Bücher? | |
Nein, wir haben ja ein ganz breites Angebot: Wir haben Politik, Geographie, | |
Reisen, Sport, Landwirtschaft, Biologie Medizin, Theaterwissenschaft, | |
Musik, Schauspielkunst, Theologie, Wörterbücher, wir haben ein eigenes | |
Antiquariat mit Kochbüchern, Kinder- und Jugendbücher, Bastelbücher. Es | |
wird oft nach Häkeln gefragt, da gab es ein besonderes Angebot in der DDR, | |
Schulbücher. Und wir haben Technik, Physik, Chemie, Mathematik. Aufgrund | |
eines Sachbuchs über Magnesium-Silikate, das er bei uns fand, hat ein | |
Forscher vom ehemaligen Max-Planck-Institut in Lindau eine Fassung für ein | |
Photospektrometer geschaffen, das mit der Cassini-Sonde zum Saturn geflogen | |
ist. Das zeigt den Wahnsinn der Büchervermüllung. | |
Wie hat Ihr Umfeld auf die Bücherrettung reagiert? | |
Die Menschen hat das einfach überzeugt. Zum Beispiel ein Mensch, der eine | |
Doktorarbeit über Rinderzucht schreiben wollte, ist bei uns an Literatur | |
gekommen, die er sonst gar nicht bekommen hätte. Jemand, der an bestimmten | |
mathematischen Problemen interessiert ist, hat bei uns Lehrbücher gefunden, | |
ebenso ist es bei Chemie und Physik, die sich Leute sonst aus Berliner | |
Buchhandlungen oder über Verwandte besorgt haben. Wobei wir seit 1995 ein | |
gesamtdeutsches Bücherensemble haben. Wir bekommen von vielen Privatleuten, | |
Verlagen und Antiquariaten Angebote. | |
Stemmen Sie sich angesichts des Aufschwungs von E-Books mit der | |
Bücherrettung gegen die Zeit? | |
Ich denke, das gedruckte Buch hat von seiner Haptik her einen großen | |
Vorteil. Wenn Sie daran denken, wie lange es schon Schriftrollen und Bücher | |
aus geschöpftem Papier gibt, dann wird es die gedruckten Bücher auch weiter | |
geben. Ich habe gerade gestern von einem Leipziger Publizisten aus dem 19. | |
Jahrhundert, Karl Julius Weber, eine Schrift über Bücher gelesen. Da wurde | |
schon diskutiert, ob es gut ist, dass so viel publiziert wird. | |
Da landen wir wieder bei der Trivialliteratur, die Sie nicht retten wollen. | |
Bestimmte Trivialliteratur, sage ich mal. | |
In diesem Jahr haben zwei DDR-Autorinnen, Elke Erb und Helga Schubert, mit | |
die höchsten Literaturauszeichnungen erhalten. Erfüllt Sie das mit | |
Befriedigung? | |
Von Elke Erb haben wir damals auch ein Buch auf dem Müll gefunden, | |
„Kastanienallee“; sie ist bei uns gewesen und hat es vorgestellt. Der Preis | |
ist eine etwas späte Wertschätzung. | |
Die geretteten Bücher verkaufen Sie gegen Spende. Kommen da gelegentlich | |
auch Leute, die billig kostbare Bücher mitnehmen wollen? | |
Wir geben für die Spende einen Wert vor. Am Anfang stand das Dorf voller | |
Autos nach einer Reportage im Kulturreport der ARD. Da hat man versucht, | |
den Kofferraum zu füllen und mit 20 Mark abzuhauen. Das haben wir | |
unterbunden. Eigentlich machen wir sehr positive Erfahrungen. | |
17 Aug 2020 | |
## AUTOREN | |
Friederike Gräff | |
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