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# taz.de -- Aufbegehren in Belarus: Kein Euromaidan in Minsk
> Die Zukunft der Belarussen ist noch nicht absehbar. Einen Vorteil hat das
> Land gegenüber der Ukraine: Es gibt keine Oligarchen, die mitmischen.
Als ich in die erste Klasse kam, war Alexander Lukaschenko schon seit zwei
Jahren Präsident von Belarus. Solange ich mich erinnern kann, ist dieser
schnurrbärtige Mann das Staatsoberhaupt unseres Nachbarlandes. In
ebendiesem Land wächst jetzt schon die zweite Generation unter der
Präsidentschaft Lukaschenkos heran. Und von denen, die ihn damals, 1994,
erstmals gewählt haben, leben heute viele schon gar nicht mehr.
So eine Geschichte, das müssen Sie zugeben, klingt in der heutigen Zeit
schon ziemlich irre. Und wenn man es mal etwas umgangssprachlich
formuliert: Die Belarussen haben ihn nach 26 Jahren herzlich satt. Aber es
könnte vermutlich auch so weitergehen, denn ein stabiles Belarus, selbst
unter einem Tyrannen wie Lukaschenko, gefällt vielen – sowohl in Russland
als auch in der Europäischen Union und den USA.
Das erste deutliche Anzeichen dafür, dass für Lukaschenko wirklich das
Rentenalter erreicht ist, war sein Umgang mit dem Coronavirus: Er schlug
vor, es mit Hilfe von Wodka, Saunabesuchen und landwirtschaftlicher Arbeit
zu bekämpfen. Anschließend rechnete er in der für ihn typischen Art mit der
Opposition ab, indem er Menschen verhaften ließ oder einschüchterte. Aber
dieses Mal konnten die Belarussen nicht mehr schweigen.
Derartige Proteste, wie sie nun begannen, hatte es in Belarus noch nicht
gegeben. Im ganzen Land gingen Zehntausende auf die Straße – vom
Jugendlichen bis zum Rentner. Die Menschen rechneten zwar damit, dass
Lukaschenko den Protest unterdrücken würde. Aber die Brutalität, mit der es
dann geschah, hatte wohl niemand erwartet. In der ersten Protestnacht nach
der Bekanntgabe der Ergebnisse der Präsidentschaftswahlen gingen
Einsatzkräfte aus Armee und Geheimdienst („Siloviki“) mit Blendgranaten,
Gummigeschossen und Wasserwerfern gegen friedliche Demonstranten vor.
Völlig willkürlich verhafteten Mitarbeiter der OMON, einer Spezialeinheit
der Sicherheitskräfte, Menschen auf den Straßen, schlugen sie zusammen,
folterten. Mobilfunk- und Internetverbindungen wurden unterbrochen. Das
Regime wollte unbedingt verhindern, dass publik würde, wie es sich mit
blutigen Fingern am Thron der Macht festkrallt. Aus diesem Grund gibt es
bislang auch keine exakten Angaben über die Zahl der Opfer.
Viele, auch in der Ukraine, vergleichen das, was in den letzten Wochen in
Belarus passiert ist, mit dem Euromaidan in Kiew im Winter 2013. Nein,
bislang ist das kein belarussischer Maidan, und ich hoffe, dass es dazu
auch nie kommen wird, denn in der Ukraine wurde zu viel Blut vergossen.
Obwohl die Versuchung, diese beiden Protestbewegungen zu vergleichen, groß
ist.
Die Ukrainer sind damals auf die Straße gegangen, weil sie nicht länger
eine Pufferzone zwischen Russland und der Europäischen Union sein wollten,
und hofften, sich auf den Weg nach Europa machen zu können. Die Belarussen
hingegen streben, viel grundsätzlicher, danach, den Autoritarismus in ihrem
Land zu beenden und ein freier Staat zu werden. Aber eines haben die beiden
Oppositionsbewegungen doch gemeinsam: Beide wollen endgültig die
sowjetische Vergangenheit hinter sich lassen und vollwertige Teile der
demokratischen Welt werden.
Nur ist dies für Belarus, im Unterschied zur Ukraine, um einiges schwerer.
Denn das Land steht seit 26 Jahren unter der Herrschaft desselben
Präsidenten. In der Ukraine waren im gleichen Zeitraum bereits sechs
Präsidenten an der Macht; das Land hat zwei Revolutionen, eine Annexion und
einen Krieg erlebt. Und Lukaschenko hat all dies von seinem
Präsidentensessel aus beobachtet. Dass die Belarussen noch keine Erfahrung
mit dem Absetzen von Machtinhabern haben wie die Ukrainer, erschwert ihnen
den Weg zu demokratischen Transformationen im eigenen Land. Dabei ist es
natürlich falsch, anzunehmen, dass die Ukrainer ihren Kampf um die
Demokratisierung schon gewonnen hätten. Aber die beiden Völker sind nach
dem Zerfall der Sowjetunion unterschiedliche Wege gegangen.
## Lukaschenko-Ära: Fortsetzung der Sowjetzeit
Für die Belarussen war das Vierteljahrhundert unter Lukaschenko wie eine
Fortsetzung sowjetischer Zeiten, trotz der staatlichen Unabhängigkeit. In
den Jahren seiner Präsidentschaft wurden traditionelle belarussische
Symbole verboten; ganze Generationen vergaßen die belarussische Sprache,
und die nationale Identität wurde von der sowjetrussischen abgelöst. Darum
ist es nicht verwunderlich, dass die Belarussen antisowjetische
Veränderungen wollen. So wie in dem Lied „Peremen“ (Veränderungen) der
sowjetischen Rockgruppe „Kino“ aus Perestroika-Zeiten: „Veränderungen
fordern unsere Herzen, Veränderungen fordern unsere Augen“, das zur Hymne
der belarussischen Proteste wurde.
Das Lied wird sehr wahrscheinlich auch der Abgesang auf Lukaschenkos
Regime. Vielleicht können die Belarussen noch nicht präzise formulieren,
welche Veränderungen genau sie wollen, aber sie streben auf jeden Fall nach
einer veränderten Beziehung der Machthaber zum Volk. Um keine Angst mehr zu
haben, um nicht mehr wegen abweichender Meinungen auf der Straße
zusammengeschlagen zu werden, damit friedliche Proteste nicht mit
Waffengewalt beantwortet werden, damit der Präsident ein Manager im Dienste
des Volkes und nicht ein ewiger Diktator ist.
Ich weiß noch, wie der Euromaidan in der Ukraine begann. Mit Polizeigewalt,
auf die, wie zur Antwort, am folgenden Tag hunderttausende Menschen in Kiew
auf die Straße gingen. Damals durchlebten wir mit Sicherheit genau das, was
jetzt auch die Belarussen erleben – das erste Blut auf den Straßen unseres
friedlichen Landes war ein Schock und hat die Ukrainer bis heute stark
traumatisiert. In den drei Monaten nach diesem ersten Blutvergießen waren
die ukrainischen Proteste auf dem Maidan, dem „Platz der Unabhängigkeit“ in
Kiew friedlich.
Man hatte fast den Eindruck, als ob nichts weiter gelingen und Präsident
Wiktor Janukowitsch nicht abtreten würde. Die Machthaber griffen die Leute
damals nicht besonders an und taten so, als würden sie sich den
Protestierenden ergeben – obwohl sie in Wirklichkeit schon beschlossen
hatten, diese zu zermürben. Die Anspannung löste sich, und es schien, als
würde es nur noch ein bisschen dauern, bis alle von allein auseinandergehen
würden.
Aber im Januar 2014 verlor Janukowitsch die Nerven und ging zum Angriff
über. Der Protest flammte sofort wieder auf. Und es zeigte sich schnell,
dass die Menschen nun nicht weggehen würden. Die ukrainischen Einsatzkräfte
aus Militär und Polizei verjagten die Protestierenden bei Minustemperaturen
mit Wasser aus Feuerhydranten und schossen mit scharfer Munition.
In einem zivilisierten Land wäre so etwas undenkbar. In jenen Tagen starben
die ersten drei Demonstranten; einer von ihnen war der 25-jährige
Belarusse Michail Schischnewski, der von der Freiheit in seinem Land
träumte und sein Leben für die Freiheit der Ukraine opferte. Damit war der
Rubikon überschritten – die Ukrainer ließen sich nicht mehr aufhalten.
Alexander Lukaschenko machte den gleichen Fehler wie Wiktor Janukowitsch –
es war gerade die Polizeigewalt gegen friedliche Demonstranten, die deren
Kampfgeist weckte. Und so wie die Ukrainer damals haben nun auch die
Belarussen keine Angst mehr vor den Knüppeln und Kugeln des Regimes, weil
am Ende die Frage nach dem Überleben als Volk und Nation steht. Schon jetzt
ist offensichtlich, dass der belarussische Präsident nach dieser
Gewaltorgie nicht mehr lange an der Macht bleiben wird. Die Belarussen
werden ihm nicht den Schrecken verzeihen, den sie durchleben mussten. Sehr
wahrscheinlich hat Lukaschenko das auch schon selbst eingesehen.
Die Zukunft der Belarussen ist nicht vorhersehbar. Und doch haben sie schon
gewonnen – sie haben ihre Opferbereitschaft gezeigt. Niemand sieht sie mehr
als unterwürfige Sklaven, die keine Demokratie wollen. Und das Wichtigste
ist, was Präsident Lukaschenko selbst für sein Land getan hat: Er hat den
Belarussen gezeigt, dass sie einig sind, dass sie alle das gleiche Ziel
haben – in einem freien Staat zu leben, in dem nicht nur jeder eine Meinung
hat, sondern diese auch verteidigen kann.
## Nationale Wiedergeburt
Der belarussische Protest wird – im Unterschied zum ukrainischen – nicht
von oppositionellen Kräften oder einheimischen Oligarchen unterstützt, ganz
einfach aus dem Grund, dass es beides in Belarus gar nicht gibt. Die
Belarussen vereint unter der weiß-roten Nationalflagge ihr Gefühl der
eigenen Würde und nicht das Streben nach West oder Ost. Darum ist dies eben
kein ukrainischer Euromaidan, sondern eine belarussische Revolution der
Würde. Es ist die nationale Wiedergeburt des Landes Belarus, die schon vor
30 Jahren hätte stattfinden müssen, als die Sowjetunion zerfiel.
Die verhaltene Reaktion des Westens auf die Ereignisse zeigt, das die
Belarussen allein bleiben werden im Kampf um ihre Freiheit. Vermutlich
zeigt bei den Demonstrationen auch genau aus diesem Grund niemand eine
EU-Flagge. Gleichzeitig hat Lukaschenko sich selbst in die Ecke manövriert
und hat keine Handlungsoptionen mehr. Wenn es jetzt nicht gelingt, ihn zu
stoppen, wird er ganz Belarus in ein einziges große Gefängnis mitten in
Europa verwandeln.
Natürlich gibt es gleich nebenan noch den Kreml mit seinen
imperialistischen Ambitionen, der dem belarussischen Diktator entweder ein
Rettungsboot schicken kann oder dieses zusammen mit ihm untergehen lässt.
Aber die russische Hilfe brächte den Belarussen kaum das, wofür sie diese
Revolution begonnen haben.
Man muss sich darüber im Klaren sein, dass Russland zwar die Ukraine an der
Hand hält, Belarus aber an der Gurgel packt. Die Belarussen sollten aus den
traumatisierenden Revolutions- und Kriegserfahrungen der Ukrainer lernen,
dass ein Sieg auf der Straße allein nicht ausreicht. Nach dem Sieg kommen
größere Herausforderungen als der Sturz des Diktators. Aber man darf nicht
aufgeben, weil sich in Belarus jetzt das Schicksal der ganzen Region
entscheidet. Denn um endlich die Idee Putins von der Wiedergeburt der
Sowjetunion zu Grabe tragen zu können, muss Belarus wirklich frei werden.
Aus dem Russischen von [1][Gaby Coldewey]
22 Aug 2020
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## AUTOREN
Anastasia Magasowa
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