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# taz.de -- Sängerin Wilhelmine über Identität: „Weil ich authentisch bin�…
> Die Berliner Sängerin Wilhelmine nennt ihre Musik „Selbsterkundungspop“.
> In ihrer aktuellen Single „Komm wie du bist“ feiert sie die Vielfalt.
Bild: Wilhelmine ist in einem besetzten Haus in Kreuzberg aufgewachsen, das Bil…
taz: Wilhelmine, sind Sie ein U-Boot?
Wilhelmine: Ich kann tauchen, aber sonst wüsste ich eigentlich nicht.
Ihre Musik kommt scheinbar harmlos daher, sehr eingängig und fröhlich, aber
verhandelt dann doch sehr ernste Anliegen. Schmuggeln Sie Themen wie
Diskriminierung, Lesbischsein in der Provinz, Identitätssuche oder
Alkoholismus in den Mainstream?
Ja, so gesehen bin ich vielleicht tatsächlich ein U-Boot. Man kann zu
meiner Musik erst einmal mitgrooven und nur unbewusst zuhören, aber ertappt
sich dann vielleicht selber dabei, dass man zuhört – und stößt im Idealfall
so auf meine Themen.
Aber Konzept ist das nicht?
Nein, meine Musik hat nicht diesen Hintergedanken. Aber ich fand es schon
spannend, vor allem bei meiner ersten größeren Veröffentlichung, bei diesen
ersten fünf Songs, die ja so etwas wie eine Visitenkarte sind, mit einer
Leichtigkeit zu spielen, die trotzdem meine Inhalte transportieren, um zu
merken, dass ich Popmusik mache, die etwas sagen möchte. Aber es geht in
meiner Musik nicht generell fröhlich zu. Es gibt auch genug traurige
Lieder, die ich geschrieben habe, die sehr traurig klingen, weil die
Moll-Akkorde ihre Arbeit tun.
Die Idee dahinter ist ja, dass man versucht, jemanden mit diesen Themen zu
erreichen, der einem sonst vielleicht nicht zuhören würde.
Ja, ich glaube schon, dass ich so mehr Menschen erreiche. Und, wenn es gut
läuft, gibt es einen Aha-Moment, in dem man feststellt: Ach so, es geht ja
eigentlich um Sucht, es geht um Gewalt, es geht vielleicht sogar um
Traumata, die bewältigt wurden. Mir ist schon klar, dass die Gefahr
besteht, dass das Thema auch mal überhört wird, aber das Risiko muss ich
eingehen. Aber um ehrlich zu sein, denke ich darüber gar nicht so viel
nach, in welche äußere Form ich meine Emotionen gieße. In erster Linie muss
es sich gut anfühlen für mich.
Auffällig ist aber die große Diskrepanz zwischen Inhalt und Form. Ihre
aktuelle Single „Komm wie du bist“ ist eine fröhliche Mitsing-Hymne, in
deren Text, der von Diskriminierung erzählt, aber auch eine gehörige Wut
mitschwingt.
Ja, total. Das hätte man auch anders, nämlich wütend machen können. Aber
man muss sehen, dass zwischen den Erlebnissen, die in solchen Songs
geschildert werden, und dem Moment, in dem ich den Song darüber dann
schreibe, bisweilen mehrere Jahre liegen.
Auch sehr leicht wirkt „Meine Liebe“, Ihre erste, im vergangenen Jahr
erschienene Single, die von Ihrem eigenen Lesbischsein handelt. Warum haben
Sie sich gleich im ersten Song, der die Öffentlichkeit erreicht hat,
geoutet?
Das war mir wichtig, ich wollte das als ausgesprochen wissen – ein für alle
Mal. Ich wollte klarstellen, dass es zu mir gehört, dass ich mit einer Frau
zusammen lebe – und dass es kein Thema mehr ist.
Nicht so klar ist die Bedeutung der roten Flagge, die Sie im dazugehörigen
Videoclip schwenken.
Ja, da wird in den Kommentaren sehr viel spekuliert. Warum rot? Liebe? Aber
das gefällt mir, deshalb möchte ich dazu auch nur so viel sagen: Die
Regenbogenfahne stand nie zur Debatte, das wäre mir im Zusammenhang mit
diesem Song zu platt gewesen.
In den Kommentaren wird nicht nur das diskutiert, sondern viele schütten
auch ihr Herz aus, bedanken sich, dass sie sich nicht mehr allein fühlen.
Wie geht es Ihnen damit?
Das berührt mich sehr, da muss ich mich auch manchmal schütteln. Dass ich
ein Lied geschrieben habe, das manche dazu veranlasst, sich zu zeigen, wie
sie sind. Manche schreiben, dass sie „Meine Liebe“ als Outing-Lied an ihre
Eltern geschickt haben – um endlich darüber reden zu können. Ich habe mir
natürlich ein paar Sorgen gemacht, dass ich damit homophobe Reaktionen
provoziere. Ein wenig findet das auch statt, das kann man in den
Kommentaren ebenfalls lesen. Aber das ist eben nicht die Mehrheit.
Stattdessen ermutigt das Lied viele Menschen, und das ist wunderschön.
Ängstigt es Sie nicht, dass ein so persönliches Lied bei anderen dermaßen
existenzielle Gefühle auslöst?
Ängstigen? Nein, gar nicht. Ich finde das spannend.
Kann Musik Leben retten?
Ja, finde ich schon. Wenn man damit schafft, die eigenen Gedanken in eine
gesündere Richtung zu lenken. Wenn ein Lied dabei hilft, etwas zu
artikulieren, was man bislang nicht rauslassen konnte. Die Musik kann
helfen, etwas auszusprechen, das man bislang nicht aussprechen konnte.
Nun gibt es Menschen, die sagen: Was soll dieses Lied heute denn noch, das
mit der Homophobie ist doch nicht so schlimm, es hat sich doch viel getan.
Sarah Connor wird Nummer eins in den Charts mit einem Lied über einen
schwulen Jungen.
Sicher, man kann sagen, es hat sich viel getan. Aber wenn man die
Kommentare zu meinem Lied liest, dann merkt man, dass es trotzdem noch
nötig ist. Nicht nur, weil es offensichtlich noch sehr viele Menschen gibt,
die eine solche Diskriminierung erleben. Aber auch, weil es auf der anderen
Seite Menschen gibt, die immer noch ein Problem damit haben. Homophobie ist
immer noch allgegenwärtig. Vor anderthalb Jahren wurde uns eine Flasche
hinterhergeworfen, als ich mit meiner Freundin händchenhaltend durch ein
Einkaufszentrum gegangen bin. Das ist nicht weg, Homophobie ist real.
Einen anderen Song von ihnen, „Komm wie du bist“, könnte man als
Diversitätshymne verstehen.
Ja, das ist lustig, dass das jetzt daraus gemacht wird. Aber der Ursprung
ist ein ganz anderer. Ich war bei einer Lesung von Laura Malina Seiler,
einer Coachin. Ich bin großer Fan und extra nach Hamburg gereist. Bei
dieser Lesung entstand dann eine Coaching-Situation zwischen Seiler und
einer Frau aus dem Publikum, die total emotional wurde – ich musste selbst
weinen in der Situation, weil es so schockierend war, dass sich diese Frau
nie zuvor willkommen gefühlt hat. Das hat mich so berührt, dass ich am
nächsten Tag ein Lied daraus gemacht habe. Der Song ist also nicht
autobiografisch. Die Diversitätsbotschaft war also keine Absicht, aber als
der Song so verstanden wurde, haben wir das Thema aufgenommen für den
Video-Clip.
Was auch auffällt, wenn man Ihre Video-Clips und das ganze Image sieht: Es
ist sehr auf ein Mainstream-Publikum ausgerichtet.
Ja, wenn man will, kann man sicher sagen, ich mache Mainstream-Pop. Ich
würde zwar eher sagen: Selbsterkundungspop. Oder Selbstliebe-Pop. Aber das
kann sich jede und jeder aussuchen.
Sie sind auf jeden Fall bei einer großen Plattenfirma.
Ja, und dafür habe ich mich bewusst entschieden. Ich bin auf die
Plattenfirma zugegangen. Denn die Musik ist für mich kein Hobby. In meiner
Idealvorstellung kann ich gut von der Musik leben, es groß machen und
Konzerte spielen, zu denen auch tatsächlich Menschen kommen. Und ich habe
mir überlegt, wie ich die meisten Menschen erreichen kann, wie ich eine
Bühne bekomme, mir aber trotzdem treu bleiben kann – und deshalb habe ich
beim Major angeklopft. Denen habe ich ein Video gezeigt, das ich selbst
geschnitten habe, in dem ich mich vorgestellt habe. Und indem ich das
gezeigt habe, bevor ich überhaupt meine Lieder vorgespielt habe, habe ich
die Rahmenbedingungen gesetzt: Das ist es, was ich bin und was ich
mitbringe – und jetzt brauche ich ein Sprachrohr.
Warum hat die Plattenfirma Sie verpflichtet, was denken Sie?
(denkt lange nach) Ich glaube, weil ich authentisch bin. Ich erzähle meine
Geschichten, und ich denke, dass sie das interessiert hat. Ich hoffe es
jedenfalls.
Noch vor ein paar Jahren hätte eine solche große Plattenfirma Ihnen
wahrscheinlich nahelegt, doch lieber zu einem geschlechtsneutralen „Du“ zu
singen.
Ja, das kann sein. Ich kann mir auch vorstellen, dass es das heute noch
gibt, dass jemand meint, ich sollte, um die Erfolgsaussichten und die
Radiotauglichkeit zu erhöhen, statt „mit einer Frau an meiner Hand“ lieber
„mit dir an meiner Hand“ singen. Vermutlich habe ich auch diese Freiheit,
weil ich von Anfang an mit der imaginären Regenbogenfahne ins Haus
gestolpert bin.
Haben Sie trotz dieser Freiheit das Gefühl, dass es noch immer keine
Selbstverständlichkeit ist, sich im Popgeschäft in Deutschland zu seiner
Homosexualität zu bekennen?
Fällt Ihnen sonst jemand ein außer Kerstin Ott? Es ist immer noch
außergewöhnlich. Auch Bisexualität findet in der Musikindustrie eigentlich
nicht statt. Ich glaube, viele haben Angst vor Schubladen. Und gerade für
Frauen ist es schwierig, damit ernst genommen zu werden. Lesbischsein wird
doch oft nur als eine Phase gesehen, die wieder vorübergeht. Damit wird
kokettiert wie von Katy Perry: „I kissed a girl and I liked it.“
Wegen Corona fiel dieses Jahr der CSD als Straßen-Event aus und fand nur im
Netz statt …
Ja, das ist sehr schade. Der ist immer ein Highlight. Eigentlich hatte ich
auch den Plan, zu mehreren CSDs zu fahren. Ich liebe auch das
schwul-lesbische Straßenfest in Schöneberg – das ist jedes Jahr eine
besondere Woche, in der ich so viel Diversität sehe wie nie. Ich wäre auch
gern bei dem einen oder anderen CSD aufgetreten, das war auch schon in
Planung, aber dann halt nächstes Jahr.
Wie wichtig, denken Sie, war bei der Entscheidung der Plattenfima Ihr
Lesbischsein? Oder anders gefragt: Besetzt Ihre Plattenfirma mit Ihnen
bewusst eine Nische?
Darüber habe ich auch schon oft nachgedacht, und vielleicht hat das mit
reingespielt. Unsere Zusammenarbeit hat mir bislang allerdings keinen Grund
gegeben, das anzunehmen.
Es gab keine strategischen Überlegungen? Keine Gespräche, wie das Image
gestaltet werden soll?
Nein. Auch wenn Sie es nicht glauben: Die lassen mich tatsächlich so sein,
wie ich bin. Aber ich gebe gern zu, die Arbeit mit einer Major-Plattenfirma
war sehr viel nahbarer, als ich selbst gedacht hätte. Ehrlich gesagt hatte
ich auch so etwas erwartet: Hier ist dein Kostüm, hier ist dein Schuhwerk,
und jetzt ab zum Interview-Coaching. Aber das gab es alles nicht.
Andererseits: Ich wäre auch schon weggerannt, wenn ich nicht die Künstlerin
sein dürfte, die ich bin. Ich glaube, da gibt es viele Klischees über
Major-Firmen, die nicht mehr stimmen. Ich bin ja nicht nur in einem
besetzten Haus aufgewachsen, meine Familie ist Mitte der Neunziger Jahre
sogar ins Wendland gezogen, um dort gegen Kernkraft zu protestieren. Wenn
ich auf Heimaturlaub ins Wendland fahre, fragen mich heute noch alle: Und,
ziehen dich diese Major-Kapitalisten ab? Erzähl doch mal: Wenn ich hier
draufklicke und das kaufe, wie viel landet dann bei dir?
Die haben Angst, dass Sie sich verkaufen?
Ja, ganz klar. Auch mein Manager wurde ganz genau unter die Lupe genommen.
Mir wurde schon vertraut, dass ich die richtigen Wege gehe. Aber von meinem
engsten Umfeld wurde sehr genau hinterfragt, ob ich in die falschen Hände
gerate. Sie wollten mich schützen. Und das ist ja auch richtig. Ich habe
einige Jahre gebraucht, bis ich meinen Weg gefunden hatte und wusste, dass
es die Musik sein sollte. Das ist wohl der Hippie in mir.
Wie haben Sie gemerkt, dass es die Musik sein muss?
Zu der Zeit hatte ich schon einen Verlag, der mir Räume mit Instrumenten
zur Verfügung gestellt hat, die ich von 11 bis 22 Uhr nutzen konnte. Mein
Geld habe ich damals aber noch mit einem Teilzeitjob bei einer
Produktionsfirma verdient. Der Chef wollte, dass ich mehr arbeite. Aber ich
habe gemerkt: Nein, ich will eher weniger arbeiten. Ich habe gemerkt, dass
ich nicht genug Raum habe, dass ich nicht genug Luft bekomme, dass ich mich
in diesem Bürohochhaus am Hackeschen Markt eingesperrt fühle. Ich will
lieber Lieder schreiben. Ich will diesen Beruf ergreifen, Musikerin sein.
Klingt ziemlich ernüchternd: Kreativität als 9-to-5-Job.
Für mich nicht. Für mich ist so eine Struktur unheimlich wichtig, weil ich
sonst mit meinen Gedanken überall anders bin. Und in den letzten beiden
Jahren habe ich so auch 40, 50 Lieder geschrieben. Dass davon erst fünf
erschienen sind, liegt daran, dass ich mir Zeit lassen will. Ich will das
langsam aufbauen und den Leuten nicht meine ganze Lebensgeschichte, alle
meine Themen auf einmal vor die Füße werfen.
Diese Lebensgeschichte beginnt in einem besetzten Haus in Kreuzberg. Können
Sie sich noch an diese Zeit erinnern?
Ich war zwar erst sechs, als wir mit einigen anderen Familien aus dem Haus
ins Wendland umgezogen sind, aber ich habe sehr viele schöne Erinnerungen
an diese Zeit. Das gemeinsame Kochen, die Sommerfeste im Garten. Montags
sind wir immer zum Biobäcker gefahren, haben Brote für alle im Haus geholt
und ich durfte obendrauf auf dem Hackenporsche sitzen. Im Görli habe ich
Fahrradfahren und Fußballspielen gelernt – damals war der Görli lange noch
nicht hip.
Klingt ja sehr idyllisch.
Natürlich gab es auch andere Erinnerungen: Leute, die im Treppenhaus lagen,
Spritzen auf den Stufen. Aber was ich in diesem lauten, bunten Haus gelernt
habe: eine Offenheit für jeden, denn die braucht man, wenn plötzlich
irgendjemand in der Küche sitzt, den man nicht kennt, aber ganz
selbstverständlich zum Essen bleibt. Das hat mich geprägt, so viele
verschiedene Menschen kennenzulernen. So, das ist der Soundso und der
verdient sein Geld mit Jonglieren im Zirkus. Die Familie meiner allerersten
Kindheitsfreundin machte den Kinderzirkus Cabuwazi neben dem Pünktchenbad
in Kreuzberg, das jetzt keine Pünktchen mehr hat, weil die Pünktchen
überstrichen wurden. Diese Offenheit habe ich nie hinterfragt damals, und
das hat mich geprägt. Ich bin eben losgegangen und habe Fußball gespielt.
Ich wollte beatboxen, also habe ich gebeatboxt. Ich skate bis heute,
allerdings auf dem Longboard, weil ich mich mit dem Skateboard beim Ollie
mal richtig böse hingepackt habe.
Das sind alles sehr männliche Hobbys …
Ich hatte einfach keine Lust auf kleine Puppen. Ich war Mine, hatte kurze
Haare und sah aus wie ein Junge, aber niemals hat jemand komisch gefragt:
Warum heißt du Mine, du bist doch ein Junge? Es war normal, dass man
einfach sein konnte, was man war – oder sich das auch einfach ausdenken
konnte. Ich konnte die sein, die ich sein wollte. Das ist doch eine gesunde
Einstellung, um das Leben anzugehen.
9 Aug 2020
## AUTOREN
Thomas Winkler
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