Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Krisengeschüttelter FC Schalke 04: Zerlegte Kumpels
> Schalke steckt in einer Identitätskrise. Neben Spielen und Geld verliert
> der Fussballverein jetzt auch rasend schnell an Ansehen.
Bild: Garant für Unternehmensunkultur: Schlachter-Mogul und Schalke-Boss Cleme…
Gelsenkirchen taz | Es passt zur Lage beim FC Schalke 04, dass in dieser
trostlosen Fußballzeit finstere Geschichten über den Patriarchen des Klubs
erzählt werden. Eine der Fleischfabriken von Clemens Tönnies ist mit über
800 Infektionen zum [1][Coronahotspot] geworden, Kitas und Schulen im Kreis
Gütersloh mussten dichtmachen. Die Menschen protestieren gegen den
Industriellen und dessen Firma.
Selbst Clemens’ Neffe [2][Robert Tönnies, dem die Hälfte des zweitgrößten
europäischen Fleischkonzerns] gehört, gibt seinem Onkel die Hauptschuld für
die Katastrophe, weil der sich weigere, die von ihm geforderten
Verbesserungen der Arbeits- und Wohnverhältnisse der Mitarbeiter
umzusetzen. Kinder stehen vor der Fabrik. „Können Sie noch ruhig schlafen
Hr. Tönnies?“, steht auf einem Plakat. In der öffentlichen Wahrnehmung ist
Clemens Tönnies derzeit so etwas wie der größte Bösewicht der Nation. Schon
wieder.
Im vergangenen Sommer fabulierte der 64-Jährige über „die Afrikaner“ und
deren Fortpflanzung, seither steht er unter dem Verdacht, ein Rassist zu
sein. Nun laufen in allen Nachrichtensendungen Beiträge über die gruselige
Realität der Billigfleischproduktion. Und Tönnies’ Wirken als
Aufsichtsratschef beim FC Schalke 04 hat ebenfalls einen Tiefpunkt
erreicht. Zwar hat Sportvorstand Jochen Schneider nach Gerüchten über eine
drohende Insolvenz erklärt, die wirtschaftliche Situation des Klubs sei
„nicht mehr existenzbedrohend“, aber das ist für viele Fans nur ein kleiner
Trost inmitten der längsten Serie in der Bundesligageschichte ohne Sieg.
Seit 14 Partien hat das Team nicht gewonnen. Voller Wehmut erinnern sie
sich an die süßen Momente, die gar nicht so weit zurückliegen.
## Die Stars sind weg
2015 war der Klub noch ein strahlender Champions-League-Teilnehmer voller
Stars wie [3][Leroy Sané], Thilo Kehrer, Joel Matip, Sead Kolasinac, Julian
Draxler, Kevin-Prince Boateng, Leon Goretzka oder Jefferson Farfan. Am
vergangenen Mittwoch spielte Schalke beim 1:2 in Frankfurt mit jungen
Spielern, die kaum jemand kennt: Timo Becker, Can Bozdogan, Nassim
Boujellab, Ahmed Kutucu und Malick Thiaw, ein Symptom eines sagenhaften
Niedergangs, der sich auf sportlicher Ebene zeigt, der aber – wie die
Billigfleischproduktion – auch eine moralische Dimension hat. „Arm ist man
nicht ohne Geld, arm ist man ohne Herz“, sagen die Leute auf Schalke gerne.
Dem mit fast 200 Millionen Euro verschuldeten Klub droht nun auch, seine
wärmende Kraft verloren zu gehen.
Anfang des Monats forderte der FC Schalke Inhaber von Tickets für die
Geisterspiele auf, einen [4][„Härtefallantrag“] zu stellen, wenn sie die
ihnen zustehende Rückzahlung erhalten wollten. Sie sollten „genaue
Informationen“ über ihre „persönlichen Lebensumstände“ übermitteln und
„entsprechende Belege“ einreichen. Die Empörung war enorm. Sportvorstand
Schneider bezeichnet die Aktion, in deren Folge der langjährige Finanzchef
Peter Peters den Klub verlassen musste, mittlerweile als „kapitalen
Fehler“.
Die Entlassung von 24 Mitarbeitern des Fahrdienstes sei hingegen „aus
unternehmerischen und betriebswirtschaftlichen Gründen richtig“, sagt er.
Schalke 04 werde sozialverträgliche Lösungen für die Mini-Jobber finden,
die zum Teil seit vielen Jahren auf 400- oder 450-Euro-Basis für den Verein
arbeiteten. Aber auch dieser Schritt hat viele Schalker entsetzt. Zuvor war
schon die Basketballabteilung geschlossen worden, das Zweitligateam wurde
aufgelöst. Tönnies Rassismus-Eklat, [5][die Zustände in seiner
Fleischfabrik.] All das sind Vorgänge, die Wunden schlagen im über
Jahrzehnte entstandenen Schalker Selbstbild.
## Stolz aufs Assi-Image
Als Fußball in den 1930er Jahren noch ein bürgerlicher Sport war, trat hier
ein sensationell gutes Team auf und hat den Arbeitern im ganzen Ruhrgebiet
zu einer ordentlichen Portion Selbstvertrauen verholfen, erzählt der
Vorsitzende der Stiftung Schalker Markt, Olivier Kruschinski: „Da spielen
die ganzen Schickimickis unter sich, und jetzt kommen da plötzlich so ein
paar Assis. Die Polacken und Proleten vom Schalker Markt, die Szepans,
Kuzorras und Tibulskis und erfinden den modernen
Hochgeschwindigkeitsfußball.“
Sie besiegten ihre Gegner nicht mit den Tugenden der Bergarbeiter, nicht
mit Zusammenhalt und Einsatzbereitschaft, sondern mit Intelligenz,
Kreativität und Eleganz. Mit einem Stil, der als Vorläufer des spanischen
Tiki-Taka gilt, gespielt von Leuten, die noch gemeinsam mit den Arbeitern
in die Zechen eingefahren sind.
Seither läuft die Identifikation der Stadt über diesen Verein. Zwölf der
265 deutschen WM-Teilnehmer seit 1954 sind gebürtige Gelsenkirchener, keine
andere Stadt kann da mithalten. Zugleich haben sie aber immer ihre
Außenseiterrolle gepflegt. Früher als Proleten, heute als Repräsentanten
der ärmsten Stadt Deutschlands. „Wir sind Schalker, asoziale Schalker,
schlafen unter Brücken, oder in der Bahnhofsmission“, sang die Nordkurve,
als noch Zuschauer kommen durften. Ursprünglich ist das ein
Stadionklassiker zur Schmähung gegnerischer Fans, den die Schalker so oft
zu hören bekamen, dass sie ihn selbstironisch umgedichtet haben.
Dieser Selbstwahrnehmung steht der dringende Wunsch gegenüber, mit Bayern
München und Borussia Dortmund mitzuhalten. Es sei nicht verwunderlich, dass
der FC Schalke 04 schon länger ein wachsendes Problem mit seiner Identität
habe, sagt einer, der vertraut ist mit den Vorgängen im Klub. In der
Kategorie Gehälter gehörten sie in diesem Jahrtausend fast immer zu den
drei, vier Topteams der Liga, inszeniert haben sie sich aber als
[6][„Kumpel- und Malocherklub“], der stolz darauf ist, noch ein
eingetragener Verein zu sein. Dieses Konstrukt kann nicht dauerhaft
funktionieren, erst recht nicht, wenn eine konzeptionelle Linie fehlt.
## Der Verein, der keine Kapitalgesellschaft sein will
Seit 2001 sitzt Tönnies dem Aufsichtsrat vor, er arbeitete mit den Managern
Rudi Assauer, Andreas Müller, Felix Magath, Horst Heldt, Christian Heidel
und nun Jochen Schneider zusammen. Jeder dieser Leute hatte irgendwelche
Ideen, jeder heuerte und feuerte Trainer, Kontinuität und Ruhe kehrte nie
ein, jetzt droht der Klub, abgehängt zu werden. In diesem Prozess des
Niedergangs sind sie nicht zuletzt zum Opfer ihrer Rivalität mit dem BVB
geworden. Die Dortmunder haben sich innerhalb weniger Jahre vom Pleiteklub
zum Deutschen Meister und Champions-League-Finalisten entwickelt. Wenn die
das schaffen, dann muss das für uns erst recht möglich sein, dachten viele
Schalker. Auch Clemens Tönnies, der Milliardär, soll diese Haltung
vertreten haben, berichten Insider.
In diesem Klima steckte der Sportvorstand Horst Heldt jeden Cent in den
chronisch überteuerten Kader, während andere Topklubs moderne
Trainingsparks mit perfekt ausgestatteten Nachwuchsleistungszentren
bauten. „In der Vergangenheit wurden andere Prioritäten gesetzt und nicht
in diese Dinge investiert“, hat der ehemalige Sportvorstand Christian
Heidel vor drei Jahren gesagt. „Schalke hat bei den Arbeitsbedingungen
einen sehr großen Rückstand.“ Heidel initiierte den 80 Millionen Euro
teuren Umbau des Klubgeländes, das Projekt ist fast fertig. Der Rückstand
zur Konkurrenz ist trotzdem eher größer geworden. Nicht zuletzt, weil
Heidel sich bei Spielerkäufen verspekulierte.
Mittlerweile ist die Lage derart prekär, dass sie ein Tabuthema angehen:
die Ausgliederung der Profiabteilung. Die Rechnung ist simpel: Laut KPMG
ist der Fußballkonzern 800 Millionen Euro wert, nach einer Ausgliederung
könnten 49,9 Prozent der Anteile an Investoren veräußert werden, ohne gegen
die 50+1-Regel zu verstoßen. Die eingenommenen 400 Millionen könnten zur
Hälfte verwendet werden, um die Schulden zu bezahlen, mit den übrigen 200
Millionen könnte ein kluger Sportvorstand ein Team mit Perspektive
aufbauen. 75 Prozent der Mitglieder müssten zustimmen, was als
ausgeschlossen gilt. Zu groß ist die Skepsis gegenüber den Auswüchsen des
modernen Fußballs.
Das Schalker Scheitern ist damit auch eine Konsequenz der Haltung der
Menschen an der Basis. Ein modernes Fußballunternehmen wollen sie nicht
sein. Und die Oppositionsgruppe, die auf eine Absetzung von Clemens Tönnies
hofft, ist zu schwach. Die Mitglieder wählen den umstrittenen Unternehmer
immer wieder neu. Es nicht einfach, diesen Klub zu verstehen.
20 Jun 2020
## LINKS
[1] /Corona-Ausbruch-in-einer-Fleischfabrik/!5696126
[2] /Corona-Ausbruch-in-einer-Fleischfabrik/!5696126
[3] /Niederlage-des-FC-Schalke-04/!5578063
[4] https://www.kicker.de/776765/artikel
[5] /Corona-Hotspot-Fleischindustrie/!5690113
[6] https://schalke04.de/inside/kumpel-und-malocherclub-unter-tage/
## AUTOREN
Daniel Theweleit
## TAGS
Schalke 04
Fußball-Bundesliga
Fleischindustrie
Schalke 04
VfB Stuttgart
Schalke 04
Fußball
FC Bayern München
Fleischindustrie
Fußball
Schwerpunkt Coronavirus
Schwerpunkt Coronavirus
Lesestück Meinung und Analyse
## ARTIKEL ZUM THEMA
Abstieg aus Fußball-Bundesliga: Glück auf, Schalke!
Der vielgehasste und heißgeliebte FC Schalke 04 steigt wieder einmal ab.
Elf Dinge, die wir ohne den Klub in der Ersten Bundesliga vermissen werden.
Datenaffäre beim VfB Stuttgart: Große Erklärungsnot
Der VfB soll massenhaft Mitgliederdaten weitergegeben und die Ermittlungen
dazu torpediert haben. Nun erhärten sich die Vorwürfe.
Neuer Schalke-Trainer Manuel Baum: Vor der mittleren Reife
Manuel Baum wird neuer Trainer bei Schalke 04 und steht vor extremen
Herausforderungen. Die Aura des Assistenten Naldo soll ihm dabei helfen.
Trainerentlassung bei Schalke 04: Kaputtes Gebilde
Der Bundesligist ist überschuldet, der Kader überfordert und seit Sonntag
ohne Trainer. Wird einer wie Ralf Rangnick da ernsthaft anheuern?
Schlusspfiff in der Fußball-Bundesliga: Nicht ohne!
Die Bundesliga hat Geschichten geliefert, die wir so schnell nicht
vergessen sollten. Ein geistreicher Rückblick auf die Spielzeit 2019/20.
Reaktionen auf Fleischgipfel und Tönnies: Kein Schlachtermeister der Herzen
Schalke-Fans demonstrieren gegen Aufsichtsratchef Tönnies. Der
Fleischskandal trifft auch Bayerns Bauern. Und die Grünen fordern eine
bessere Tierhaltung.
Fußball-Bundesliga zum Einschlafen: Negation des großen Träumens
Klubs wie Mainz und Augsburg sind die Gewinner der Fußball-Bundesliga.
Leider ist das ein Symptom der Langeweile.
Corona-Hotspot Fleischindustrie: Ausbruch mit Ansage
Der Corona-Ausbruch beim Fleischkonzern Tönnies hätte verhindert werden
können. Behörden müssen Schlachthöfe, die Regeln verletzen, dichtmachen.
Corona-Ausbruch in einer Fleischfabrik: Tönnies macht wegen Corona zu
Der Branchenriese Tönnies meldet, dass hunderte Mitarbeiter positiv auf das
Virus getestet wurden. Nun stellt das Unternehmen den Schlachtbetrieb ein.
Nachruf auf Rudi Assauer: Schalke war ein Mann
Rudi Assauer inszenierte sich als Malocher und Macho. So verkörperte der
Ex-Schalke-Manager eine besondere Form der Modernisierung des Fußballs.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.