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# taz.de -- Nachruf zum Tod Noël Martins: „Sie haben mich nicht besiegt“
> Der Bauunternehmer Noël Martin wurde 1996 von Neonazis schwer verletzt.
> Bis an sein Lebensende kämpfte er gegen Rassismus und für Verständigung.
Bild: Noël Martin im Mai 2007 in seinem Haus in Birmingham
Das erste Leben von Noël Martin endete am 16. Juni 1996. Bis dahin
arbeitete der 1959 in Jamaika geborene und im Alter von zehn Jahren nach
Großbritannien gekommene Martin für seinen Traum: Genauso wie sein
Großvater auf Jamaika wollte er Rennpferde besitzen. Als Bauunternehmer
versuchte er sich das nötige Geld zu verdienen, wo immer er grad Aufträge
fand.
1996 führte ihn sein Weg auf eine Baustelle ins brandenburgische Mahlow –
in eine Region und Zeit, die nachträglich als [1][Baseballschlägerjahre]
bezeichnet wurden. Martin wurde eines der vielen Opfer rassistischer
Gewalt.
Die Monate der Angst in Mahlow, die ständigen Beleidigungen durch eine
Neonazi-Clique, die sich stets am Bahnhof versammelte, waren an diesem Tag
eigentlich schon vorbei. Zusammen mit zwei ebenfalls aus Jamaika stammenden
Kollegen wollte Martin weiter auf eine neue Baustelle. Ein letztes
Telefonat aus der Telefonzelle am Bahnhof mit seiner Frau Jacqui in
Birmingham. Ob sie endlich im Lotto gewonnen hätten, fragt er sie noch, ehe
er sich mit einer Liebesbekundung verabschiedet.
Als sie mit ihrem Auto den Ort verlassen, werden sie von zwei jungen
Neonazis verfolgt. Nachdem diese zunächst versuchen, sie von der Straße
abzudrängen, wirft einer einen sechs Kilo schweren Feldstein in die
Frontscheibe. Noël Martin verliert die Kontrolle über den Wagen, der
überschlägt sich und kracht gegen einen Baum.
## „Ich bin nur noch Kopf“, sagte Noël über sich selbst
Martin erleidet Bruchverletzungen an der Halswirbelsäule und ist fortan vom
Nacken an abwärts gelähmt. Es ist wirklich keine Übertreibung, zu sagen,
dass Martins Leben in diesem Moment beendet wurde. [2][„Nenn es: mein
Leben“, hat Martin seine 2007 erschienene Autobiografie genannt] – eine
vorangestellte Einschränkung, die das beschreibt, was danach folgte.
Sein Körper war fortan zu fast nichts mehr zu gebrauchen; er sei „nur noch
Kopf“, wie er selbst sagte. Sieben Pflegerinnen kümmerten sich rund um die
Uhr um ihn. Morgens musste er mit einem Hebekran aus dem Bett gehievt
werden, er litt unter Atemnot und Krämpfen. In der dritten Person schrieb
er in seinem Buch: „Er liegt im Bett und riecht den Gestank seines eigenen
Fleisches, das verrottet.“
Es war dieser unerträgliche Zustand, an den er sich nie gewöhnen konnte,
der ihn zehn Jahre nach dem Unfall zu der Entscheidung brachte,
[3][mithilfe der Schweizer Sterbehilfeorganisation Dignitas selbstbestimmt
aus dem Leben zu scheiden]. Eine Entscheidung, die er nicht in die Tat
umsetzte.
## Austausch zwischen Birmingham und Mahlow
Denn das Leben, sein zweites, ging ja doch irgendwie weiter. Mit der
Jacqueline-und-Noël-Martin-Stiftung organisierte er den Austausch zwischen
Jugendlichen aus Birmingham und Mahlow. Den Rassismus bekämpfen, jeden Tag,
war sein Motto. Er verkündete es im Rahmen einer antirassistischen
Demonstration, zu der er 2001 noch einmal nach Mahlow zurückkehrte. Ohne
Hass. Nicht auf die Täter, nicht auf die damals ungerührt wegschauende
Bevölkerung, auch ohne böse Worte gegen die örtlichen Politiker und
Polizisten, die zunächst nichts von einem rassistischen Motiv wissen
wollten.
Auch daran muss, gerade in diesen Tagen, noch einmal erinnert werden:
Mahlows Bürgermeister hatte nach der Tat öffentlich gemutmaßt, dass es
vielleicht die Briten waren, die die Deutschen verfolgt hatten. Die Polizei
am Unfallort kontrollierte die Papiere der beiden anderen Unfallopfer,
statt sich um die unter Schock stehenden Männer zu kümmern. Die
Staatsanwaltschaft nahm Ermittlungen wegen gefährlichen Eingriffs in den
Straßenverkehr auf. Erst [4][eine Reportage in der taz] und darauf folgende
Berichterstattung führte die Ermittler zu den stadtbekannten Tätern.
[5][Am Dienstag ist Noël Martin im Alter von 60 Jahren] am Versagen der
inneren Organe in einem Krankenhaus in Birmingham verstorben. Seinen
Lebenstraum konnte er sich erfüllen. Als erster schwarzer Pferdebesitzer
[6][gewann er mit Baddam beim traditionsreichsten Pferderennen Englands in
Ascot].
Über die Nazis, die sein Leben in zwei teilten, hat Martin gesagt: „Sie
haben mich plattgemacht, das stimmt, aber sie haben mich nicht besiegt.“
15 Jul 2020
## LINKS
[1] /Baseballschlaegerjahre-in-Ostdeutschland/!5642847
[2] /Autobiografie/!5199738
[3] /Neonazi-Opfer/!5197688
[4] /!1447349/
[5] /Noel-Martin-ist-tot/!5700904
[6] /taz-Serie-Acht-fuer-2008---Noel-Martin/!5189552
## AUTOREN
Erik Peter
## TAGS
Schwerpunkt Rassismus
Mahlow
Rechtsextremismus
Schwerpunkt Antifa
Regisseur
Schwerpunkt Rassismus
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