# taz.de -- Sound der 70er Jahre: Yacht-Rock ist ein politischer Törn | |
> Marcus Liesenfeld versammelt auf der Compilation-Reihe „Too slow to | |
> disco“ das kalifornische Pendant zum New Yorker 70er-Disco-Sound: | |
> Yacht-Rock. | |
Bild: Linda Tillery (Mitte) singt gegen Homophobie | |
Viele Menschen werden beim Durchhören der Zusammenstellungen „Too Slow to | |
Disco“ spontan eben doch behaupten, dass es tanzbar ist, was Marcus | |
Liesenfeld alias DJ Supermarkt seit 2014 an Musik auf den nun sieben | |
Episoden seiner Compilation-Reihe versammelt: Schätze aus den späten | |
1970ern aus Kalifornien. Es ist definitiv die Hochzeit von Disco, bloß an | |
der anderen Küste der USA: Während Disco vom schwulen Underground | |
Manhattans durch den enormen Erfolg des Films „Saturday Night Fever“ (1977) | |
mit seinen Bee-Gees-Songs Richtung Mainstream strömte, wurde auch der Sound | |
der US-Westküste zunehmend discophil; wenn auch, wie der Compilation-Titel | |
„Too Slow to Disco“ schon triggert, mit leicht entspannteren Tempi, | |
mitunter gerade zu langsam zum Abhotten. | |
Während Disco meist bei 100 bis 120 Beats pro Minute (bpm) abgeht, grooven | |
sich viele Tracks besagter Compilation eher so bei 90 oder 95 bpm ein: | |
Soft-Rock oder Westcoast-Sound nannte man das am Ende der 1970er; seit | |
circa 2005 macht sich auch der Genre-Begriff Yacht-Rock dafür breit. Und | |
das war ursprünglich sehr abwertend gemeint: Disco setzt zwar ebenfalls auf | |
fulminant-aufwendige Orchester-Arrangements mit Streichern und Bläsern, | |
nicht selten mit drei oder vier Dutzend Studio-Session-Musiker:innen, | |
was man als zu glatt poliert empfinden kann. Aber während Disco als | |
stilgebend für House und Techno gefeiert wird, haftete Yacht-Rock (jenseits | |
der von der Kritik hofierten Band Fleetwood Mac) oft klanglich wie lyrisch | |
das Image allzu seichter, unpolitischer Machart an. | |
Zu Unrecht, wie die „Too Slow“-Compilations beweisen, zumal jetzt mit der | |
neuen Episode, die sich zum zweiten Mal in dieser Reihe exklusiv den Ladys | |
jener Zeit widmet. Sowieso ist inzwischen ein Wandel zu spüren, was | |
Yacht-Rock angeht: Im gehobenen AOR-Mainstream hat etwa Lana Del Rey, die | |
mittlerweile dem luftig-leichten, dennoch melancholisch-orchestralen Sound | |
frönt, 2017 ein Duett mit Fleetwood-Mac-Sängerin Stevie Nicks gemacht – und | |
sich fürs Cover ihres letzten Albums auf einer Yacht ablichten lassen. | |
Junge kalifornische Bands wie die (auch als Produzenten sehr gefragten) | |
Foxygen und [1][die Band der jüdischen Schwestern HAIM] finden auf einigen | |
Songs ihrer jüngsten Alben offenkundig Spaß am Yacht-Rock – und übrigens | |
auch Künstler wie [2][Thundercat, der Superfrickler am Bass], der das | |
Vorurteil widerlegt, Yacht-Rock sei bloß was von und für weiße Yuppies. | |
Den Sinneswandel in Sachen Yacht-Rock hat eingangs erwähnter Marcus | |
Liesenfeld alias DJ Supermarkt aus Berlin eingeläutet: Seit 2014 kuratiert | |
er nicht nur die „Too Slow to Disco“-Compilations, sondern schmeißt auch | |
monatlich (wenn gerade nicht Corona ist) die gleichnamige Party im | |
Kreuzberger Monarch Club. Wer jetzt fürchtet, dass da eine Ü40-Crowd über | |
die Tanzfläche kreucht, liegt absolut falsch: Die Crowd ist auffällig | |
divers. Und jung. Angesichts der Begeisterung steht höchstens zu | |
befürchten, dass sie Fleetwood Mac für eine brandneue Band hält. Der auf | |
Hochglanz polierte Klang ist eben wieder chic und wird, anders als in den | |
großen Jahren von Grunge und schrammeligen Gitarren-Songwritern, nicht mehr | |
gemeinhin als Makel empfunden. | |
## Die 100-Millionen-Frau, die nur Insider kennen | |
Die Liner-Notes der neuesten Ausgabe von „Too Slow“ versprechen eine | |
„tiefere, noch politischere Story von 16 fantastisch talentierten Frauen, | |
die ihren eigenen Weg durch die Machismo-Jahre gefunden haben“. In der | |
Tradition der Reihe sind die Sängerinnen ziemlich unbekannt. Nicht wenige | |
Alben, von denen die Songs stammen, sind derart vergessen, dass manchmal | |
die Sängerinnen selbst nicht wissen, wem die Rechte an den Songs gehören – | |
so oft wurden die Label-Kataloge von einem Major-Label zum nächsten | |
verscherbelt. Ein perfektes Beispiel ist die auf der Compilation mit ihrem | |
[3][Song „Here I Go Fallin' In Love Again“] vertretene | |
Yacht-Rock-Singer-Songwriterin, deren drei Soloalben bis vor Kurzem bei | |
keinem Streamingdienst zu finden waren: Franne Golde. Ein bisschen reich | |
und berühmt wurde sie trotzdem – Golde hat Songs für Diana Ross, | |
[4][Whitney Houston] und [5][Cher] komponiert. Und später dann für | |
[6][Christina Aguilera] und die Sugababes, samt Grammy-Nominierung. Mit | |
Björk hat sie an Texten gefeilt. | |
Zählt man alle Alben zusammen, die Kompositionen von Franny Golde | |
enthalten, kommt man, so heißt es, auf über 100 Millionen verkaufte | |
Exemplare. Wahnsinn. Wie muss das damals für sie gewesen sein als | |
Songwriterin in den späten 1970ern? Da hilft nur ein Skype-Anruf in | |
Kalifornien, Beverly Hills 90210, wo Franne Golde heute lebt. Erster | |
Eindruck, als sie rangeht: Diese coole Lady, die mindestens 60 sein muss, | |
sprudelt nur so vor Charme und Energie. Sie gibt einem gleichzeitig das | |
Gefühl, glamourös, aber auch die neue beste Freundin zu sein. Man kann sich | |
sofort vorstellen, auf einer Gartenparty ihren Anekdoten aus dem Musik-Biz | |
zu lauschen. | |
Golde sagt Dinge wie: „Als ich jung, äh, jünger war …“. Ja, da war Rick… | |
Lee Jones ihr großes Idol, und sie, Golde, war „diese kleine Künstlerin, | |
die gerade durchstarten wollte“ und plötzlich mit Leuten zu tun hatte, die | |
ansonsten mit den Bee Gees arbeiteten. „Ich hatte das Glück“, erzählt sie | |
der taz, „dass Typen, mit denen ich an Songs schrieb, immer sehr | |
respektvoll mit mir umgingen. Wenn man sich andererseits die Business-Seite | |
der Musikindustrie damals anschaut: Die war von Männern dominiert!“ | |
## Ein Hit ist das höchste High | |
Wenn Franne Golde von ihrem für Diana Ross komponierten Song „Gettin’ Ready | |
for Love“ von 1977 erzählt, klingt sie wieder wie ein Schulmädchen, das | |
ganz aufgeregt ist, weil sie eine Eins im Aufsatz bekommen hat: „Das war | |
mein erster Hit! Sehr jazzorientiert, aber dann mit Pop-Refrain! So ein Hit | |
ist eines der höchsten Highs, die du haben kannst. Als ich ihn das erste | |
Mal in meinem 1973er VW-Käfer gehört habe auf dem Sunset Boulevard, hab ich | |
meinen Papa angerufen und den Hörer der Telefonzelle ans Autoradio | |
gehalten.“ Und wie baff sie war, als sie ihren ersten Song auf einem | |
Whitney-Houston-Album platzierte: „Ich wusste ja nie, ob die Songs es | |
wirklich schaffen. Damals haben wir gesagt: ‚Nothing’s final, til it’s on | |
vinyl‘ “. Sie kichert. | |
Aber wie fühlt sich das an, dass ihre eigenen Alben niemals die verdiente | |
Anerkennung bekamen? „Es gab so viele Songwriter zu der Zeit“, sagt sie. | |
„Alle wollten wir Singer-Songwriter sein, wie Carole King. Ich hatte Glück, | |
dass ich drei Alben machen durfte. Viele bekamen eins und dann war Schluss. | |
Mir war klar, dass ich nicht so eine Stimme habe, bei der die Leute sagen | |
‚Oh mein Gott‘, so wie bei Whitney. Ich war okay damit, Songwriterin und | |
glücklich zu werden.“ | |
Von den Tantiemen kann sie ganz gut leben. Samples aus ihrem Song „Don’t | |
Look Any Further“ für Dennis Edwards und Siedah Garrett sind im | |
Dauereinsatz für HipHop, von Tupac, Dr. Dre und Snoop Dogg. „Ich bin nicht | |
vermögend genug, um mir eine Yacht zu kaufen“, wiegelt sie mit einem | |
Lächeln ab. Heute arbeitet sie als Modedesignerin, aktuell designt sie | |
Coronamasken. | |
## Lesbisch, Schwarz und keine Panik vor Anita | |
Ein Song, bei dem der politische Anspruch der Compilation besonders klar | |
wird, ist [7][„Womanly Way“ von Linda Tillery]: eine Gospel-affine Eloge | |
auf die Liebe unter Frauen. Als Schwarze war Linda Tillery in den späten | |
1970ern sehr irritiert, dass es auf dem feministischen, von Lesben | |
kollektiv geführten Label Olivia Records nur weiße Künstlerinnen, | |
Produzentinnen und Toningenieurinnen gab. Letzten Endes hat sie dort drei | |
eigene Alben veröffentlicht und auch einen Song gegen die reaktionäre Anita | |
Bryant, die in den späten 1970ern eine der prominentesten Gegnerinnen der | |
Gleichberechtigung von Lesben und Schwulen war. | |
Auch das ist Yacht-Rock: eine Schwarze Lesbe, die politisch singt, | |
inspiriert von der Harlem Renaissance in den 1920ern, wo es mitunter | |
lesbischen Blues gab – wenngleich abseits des Mainstreams. Auf dem Label | |
Olivia Records hat damals auch eine trans Frau gearbeitet, was selbst unter | |
Lesben oft als zu progressiv galt. | |
Und wo bleiben, neben den neuen Disco-Queens wie Jessie Ware, die politisch | |
bewussten Erbinnen des Yacht-Rock, vier Dekaden später? Da wäre zum | |
Beispiel Christine and the Queens aus Frankreich. Dass Yacht-Rock und | |
Chanson, die ja beide stark die Singstimme herausstellen und mit | |
geschmeidigen Arrangements umgarnen, so ihre Schnittstellen haben, hatte DJ | |
Supermarkt auch schon mit einer Frankreich-Episode seiner Compilation-Reihe | |
gezeigt. Christine and the Queens feiert mit ihrer vor Kurzem erschienenen | |
EP „La Vita Nuova“ Queerness. Lesbische Frauen auch mal als Superheldinnen, | |
in einem Klanggewand, das, ja, gerade so „too slow to disco“ ist, aber, mit | |
ein paar Sommerdrinks intus, ehrlich gesagt, doch schnell genug „to disco“. | |
Softrock braucht kein unpolitischer Eskapismus-Törn zu sein. Ab und zu muss | |
man sich auch mal, langsam tanzend, Ruhe gönnen vor und nach dem Sturm. Wir | |
segeln durch eine politische Welt. | |
24 Jul 2020 | |
## LINKS | |
[1] /Album-Women-in-Music-Pt-III-von-Haim/!5692957 | |
[2] /Neues-Album-von-Thundercat/!5388852 | |
[3] https://www.youtube.com/watch?v=S9JAuG6LM3s | |
[4] /Nachruf-auf-Whitney-Houston/!5100844 | |
[5] /Cher-covert-Abba-Songs/!5559228 | |
[6] /Christina-Aguileras-neues-Album/!5511701 | |
[7] https://www.youtube.com/watch?v=OZFzeByQqjc | |
## AUTOREN | |
Stefan Hochgesand | |
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