| # taz.de -- 75 Jahre CDU: Jubiläum ohne Richtung | |
| > Die CDU wird 75 Jahre alt. Zeit, von einem radikalen Konservatismus zu | |
| > träumen. Doch wahr wird er unter den derzeitigen Bedingungen nicht | |
| > werden. | |
| Bild: CDU-Plakat zu den Stadtratswahlen in der US-Besatzungszone 1946 | |
| Der erste Tag auf dem Land, im Winkel zwischen zwei Tourismuszonen, wo nur | |
| fünf Kühe pro Hektar grasen, Familien sich, wenn auch gelegentlich rabiat, | |
| um ihre dementen Mitglieder kümmern, der Wirt im Café unter dem Mundschutz | |
| murmelt: Er wolle Staatshilfe, aber keine Vollversorgung, jeder müsse sein | |
| Opfer bringen. Fast die Hälfte des Dorfes wählt Front National. Ich liege | |
| in der Hängematte unter einem Nussbaum, lese die eigentümlich | |
| harmonistische Presse zum 75. Geburtstag der CDU. | |
| Alles Schwarze weichgezeichnet: der bornierte Antisozialismus der Fünfziger | |
| und die Promiskuität bei der Auswahl des Personals, der schwarz-gelbe | |
| Neoliberalismus der Achtziger; die anhaltende Verspätung in Sachen | |
| Migration, Minderheiten und Mitbestimmung, die ideologische Kluft zwischen | |
| Führungspersonal und den Mitgliedern im Innern des Landes. | |
| Kein Brillantfeuerwerk zum 75. also, wenig Geschichte und viel Spekulation | |
| über das Personal für die nächste Wahl. „244 Millionen Zweitstimmen in 75 | |
| Jahren“, schreibt AKK in Werbedeutsch, lobt das keynesianische | |
| Rettungspaket für Wachstum und Wohlstand und blickt mit viel Willen und | |
| ohne konturiertes Konzept auf die Nöte der Zukunft. | |
| Ein solches christsozialdemokratisches „Weiter so“ – Wachstum mit | |
| Umverteilung, prekäre Balance zwischen Lohnabhängigen und Profitabhängigen | |
| je nach Geschäftsklima – ist angesichts der kommenden Weltlage | |
| unwahrscheinlich. | |
| Aber wenn selbst Söder und Merz grünliberal geläutert ihre Arme ausbreiten, | |
| stellt sich – zumindest in den Ferien und in der Hängematte – ein Traum | |
| ein: der Traum von einem Konservatismus, der dessen Werte dem | |
| parteigewordenen Gemengsel aus Xenophoben, Frauenfürchtern, Eurogegnern, | |
| frustrierten Geschichtslehrern und einem vom politischen Johannistrieb | |
| aufgeputschten Pensionär entwindet. | |
| ## Auf alte Werte besinnen | |
| Der Traum von einem wirklich radikalen Konservatismus, der seine | |
| Überzeugungen – Naturverbundenheit, Heimatliebe, Pflichtbewusstsein, | |
| Tradition, Stabilität, Christentum und Dauerhaftigkeit – nicht nur in | |
| Festreden in der Provinz feierte, sondern konkret zuspitzte. Der Traum von | |
| einem, sagen wir, fontaneschen Konservatismus, der aus den Werten der | |
| Vergangenheit einen frischen Sinn für Zukunft destillierte. | |
| Aus Achtung vor der Schöpfung würde ein solcher Konservatismus die | |
| Kriterien für Landschaftsschutz verschärfen, die [1][Massentierhaltung] | |
| auslaufen lassen und die Vergiftung der Böden sanktionieren. | |
| Aus Traditionsbewusstsein würde er die Verschandelung der Städte und die | |
| [2][Ausbeutung der Mieter bekämpfen]; er würde die nationale und nicht | |
| vermehrbare Ressource Grund und Boden dem Markt entziehen: die Preise für | |
| Baugrund deckeln, massenhaft Genossenschaften gründen, | |
| Spekulationsgrundstücke enteignen. Gegen den liberalen Individualismus und | |
| zentralistische Bürokratien setzte er auf gewachsene Gemeinschaften: | |
| Seine Steuergesetze stärkten die Kommunen, privilegierten [3][regionale | |
| Strukturen der Daseinsvorsorge], lokale Banken oder Bürgerfonds. Den | |
| zentrifugalen Kräften der Globalisierung hätte er nie vertraut. | |
| Konservative glauben, das ein selbstverantwortliches Leben auf Besitz ruht. | |
| Als moderne, also realistische Konservative wissen sie: | |
| ## Weder links noch rechts | |
| In einer hocharbeitsteiligen und demokratischen Gesellschaft kann das | |
| individuelle Kleineigentum die Grundbedürfnisse Gesundheit, Wohnung, | |
| Bildung nicht länger sichern. Gegen alle Privatisierungstendenzen würden | |
| sie den Sozialstaat wiederherstellen und ausbauen, die Infrastrukturen | |
| nicht dem Börsenspiel überlassen, sondern in Gemeinbesitz zurückführen. | |
| Sie würden die Diskriminierung der Familien durch ein individualistisches | |
| Steuer-und Abgabensystem beenden, das Ehegattensplitting in ein | |
| Familiensplitting verwandeln, gegen die [4][Monetarisierung und | |
| Mechanisierung von Pflege und Gesundheit] auf die Kräfte der familialen und | |
| kommunalen Solidarität setzen und Bürgerpflichten einfordern – etwa über | |
| ein soziales Jahr für alle, als Abschluss der Schulzeit. | |
| Konservative denken in historischen Gemeinschaften. Daher wissen sie, dass | |
| der gegenwärtige Wohlstand der Arbeit vergangener Generationen zu verdanken | |
| ist und deshalb „Eigentum, Verbrauch und Anspruch nicht Privatsache sind“. | |
| Sie würden die großen Industrieunternehmen mit Hilfe des Aktienrechts für | |
| das Gemeinwohl in die Pflicht nehmen. | |
| Ein konservativer Staat würde seine Aufgaben nicht durch eine Umverteilung | |
| zugunsten der unproduktiven Eigentümer von Staatsanleihen finanzieren, | |
| sondern die Tüchtigen in die Fürsorgepflicht nehmen, also Erbschaften und | |
| Vermögen hoch besteuern. Und schließlich sind genuin Konservative skeptisch | |
| gegenüber dem starken Nationalstaat, intellektuell eher einer | |
| gesamteuropäischen Kultur verbunden und deshalb aktive Förderer eines | |
| demokratischen Europas der Regionen. | |
| ## Populär aber nicht populistisch | |
| Der radikale Konservatismus, den ich mir da in der Hängematte fantasiere, | |
| hat nie politische Gestalt angenommen; er wäre nicht links oder rechts, | |
| sondern das Erbe von Jahrhunderten europäischer Aufklärung. Die politischen | |
| Gefühle, die ihn tragen, sind weit verbreitet, finden sich in allen | |
| Parteien und Milieus, und sei es als Ahnung, „dass es so nicht weitergehen | |
| kann“: mit dem Wachstum, der pathogenen Beschleunigung, der Plutokratie. | |
| So wünschbar eine politische Bündelung dieser radikalen Gefühle wäre: Eine | |
| Partei mit solchem Programm wird es nicht geben; sie wäre nicht | |
| koalitionsfähig. Sie würde sich mit fast allen anlegen. Aber mein Gefühl | |
| sagt mir: Sie wäre populär – und nicht populistisch. Gegen ihre Gründung | |
| sprechen nicht so sehr unsere Überzeugungen, sondern – die Spielregeln des | |
| real existierenden Parlamentarismus. Und die Hängematte. | |
| 1 Jul 2020 | |
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| ## AUTOREN | |
| Mathias Greffrath | |
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