| # taz.de -- Poetischer Reisebericht: Die Quallen im Sund | |
| > Ein Stipendium im Sommer, am Meer, mit den Kindern. Im dänischen | |
| > Brecht-Hus, wo Bertolt Brecht und Helene Weigel sicher vor den Nazis | |
| > waren. | |
| Bild: Das Brecht-Haus in Dänemark mit Kinderaugen gesehen | |
| Als Erstes sind da die Quallen. Weiß durchsichtig mit zartrosa Lamellen, | |
| obwohl die ja eher bei Pilzen zu finden sind, besonders gut kenne ich mich | |
| nicht aus in der Anatomie der Medusen. Der mittelgroße Sohn hat seine | |
| Sneakers von sich geschleudert und – nachdem er die gesamte Autofahrt von | |
| Berlin nach Svendborg, das sind sechseinhalb Stunden Fahrtzeit ohne Stau, | |
| Aggro-Rap gehört, in Halbsätzen auf Kiezdeutsch vor sich hingemault und | |
| alle fünf Kilometer den Satz „Isch geh auf keinen Fall ins Wasser!“ von | |
| sich gegeben hatte – nun steht er mit hochgekrempelter Jogginghose bis zu | |
| den Knien im Sund, fischt mit kalten Fingern schlaffe Quallenkörper aus dem | |
| seichten Uferwasser, schleudert sie raus ins Tiefe und schreit dabei: | |
| „Qualle! Halt durch! Stirb mir nicht weg!“ | |
| Wir sind im [1][Brecht-Hus]. Drei Wochen. Drei Wochen Dänemark, Fünen. Ein | |
| Riesenhaus direkt am Sund. Fachwerk, Reetdach. Ein Sommer, wie wir ihn uns | |
| unter normalen Umständen niemals leisten könnten. Denn wir sind zwei | |
| Künstler, beide freischaffend, mit zwei Kindern. Zum Glück gibt es | |
| Stipendien. Noch mehr zum Glück gibt es Stipendien, die es erlauben, dass | |
| man seine Familie mitnehmen darf. Es sind sehr, sehr wenige, aber es gibt | |
| sie. Und wir sind Trüffelschweine. So dürfen wir gegen eine für uns | |
| bezahlbare Gebühr in dem Haus sein, das Bertold Brecht 1933 von den | |
| Tantiemen seines „Dreigroschenromans“ kaufte, um seine Familie und sich vor | |
| den Nazis in Sicherheit zu bringen, um leben und arbeiten zu können. | |
| Leben und arbeiten. Das ist bei uns, in unserer kleinen Familie, auch so | |
| vermischt, wir machen ständig alles gleichzeitig, leben in Geschichten und | |
| Projekten, in unseren Hirnen – und die Kinder düsen irgendwo in den | |
| Zwischenräumen herum, machen mit oder fordern laut, dass wir endlich damit | |
| aufhören mögen, mit dem Arbeiten, und uns kümmern, um sie. | |
| Wir hatten uns das im Brecht-Hus so vorgestellt: Wir Erwachsenen machen | |
| zusammen ein Buch. Wir denken, schreiben, illustrieren. Wir haben uns das | |
| so vorgestellt: Unsere Kinder tollen im Garten herum und spielen am Strand, | |
| während wir in aller Ruhe konzentriert arbeiten. Wir sind oft schrecklich | |
| naiv. | |
| Es gibt viele Schreibtische im Brecht-Hus. Es gibt einen langen, schmalen | |
| vor der Fensterfront im Schlafzimmer. Mit Blick auf den Sund und die | |
| Fähren, die mehrmals täglich den Weg zu den kleinen Inseln und zurück | |
| machen: Skarø, Drejø, Hjortø. Es gibt die großen im Schuppen. Der ist | |
| riesig und hell mit großen Fenstern, Licht. Fahrräder haben darin Platz, | |
| ein Haufen weißer Plastikgartenstühle, ein Grill und mehrere große Tische | |
| zum Malen, Schreiben, Basteln. Das tun die Kinder ausgiebig in den ersten | |
| Tagen. Sie nehmen den Schuppen in Beschlag, schleppen leere Muscheln | |
| herein, Krebshüllen und Steine, die werden mit Tuschfarben bemalt und | |
| aneinander gebunden mit Fäden. Der Sohn malt über Tage ein Bild vom Haus. | |
| Die kleine Tochter zeichnet Quallen. Ich tippe mutlos auf der | |
| Schreibmaschine. Der Mann beobachtet Insekten. | |
| ## Der Schreibtisch im Brecht-Zimmer | |
| Dann gibt es noch den Schreibtisch im Brecht-Zimmer. Wie es ja auch | |
| überhaupt Brecht-Hus heißt. Und nicht etwa Brecht-Weigel-Hus. Was mich | |
| immer wieder verärgert in diesem Sommer, denn was wäre ein Bertolt Brecht | |
| gewesen ohne eine Helene Weigel. Ohne all die Frauen. Und war die Weigel | |
| etwa nicht auch hier im Exil, als Künstlerin. In dem gemauerten Bassin, | |
| gleich links neben der Eingangstür, habe die Weigel ihre Butter gekühlt, | |
| sagt man mir. Brecht-Butter. | |
| Für mich ist es das Brecht-Weigel-Hus, aber das imposante Arbeitszimmer mit | |
| der Büste und dem Porträtfoto, das ist klar das Brecht-Zimmer. Dunkler, | |
| schwerer Schreibtisch. Hölzerne Schrankregale mit der Gesamtausgabe. Uff. | |
| Hier arbeiten? Unmöglich. Viel zu drückend liegt die Bedeutsamkeit über | |
| allem. Immerhin ist in der Nebenkammer die Waschmaschine untergebracht, | |
| könnte man sonst meinen, hier sei alles großer Geist, fern von profanen | |
| Dingen wie warmer Butter und schmutzigen Unterhosen. | |
| Das Brecht-Zimmer fällt also weg. Der Schuppen ist gekapert. Bleibt der | |
| schmale Schreibtisch im Schlafzimmer. Oder der „Stuhl von Jette“, so steht | |
| es mit krakeligem Filzer darauf geschrieben, auf Dänisch, aber die Message | |
| ist klar, direkt am kleinen Strand am Sund. Hier kann man sitzen mit dem | |
| ersten Morgenkaffee, ein Kind, die kleine Tochter, am Buddeln und hier kann | |
| man ein paar Sätze notieren ins Tagebuch, ein paar Zeilen dichten. | |
| Die [2][Quallen] lassen mich nicht los. Antikapitalistische, | |
| antineoliberale Tiere, kommt mir vor, wie sie sich so gänzlich dem Sein zu | |
| überlassen scheinen, so gar nicht streben. Ich lese Paul Mason in diesen | |
| Tagen, versuche zu verstehen, wie es alles so kommen konnte, in unserer | |
| Welt. Will mir die Qualle zum Vorbild nehmen. Aber ich darf nicht, denn wir | |
| sind ja nicht hier, um Urlaub zu machen. Die Verwalterin kommt vorbei. Ob | |
| wir ihr, in wenigen Worten, für Facebook, nun, vielleicht auch ein Foto, | |
| ja, über das Projekt, die Arbeit, die wir hier anstreben würden, es müsse | |
| nichts Großes sein, nur für die Kritiker, die gäbe es, ja, leider, sie | |
| meinen, das hier sei ein Ferienhaus für reiche Deutsche, und denen wolle | |
| man eben zeigen, dass hier gearbeitet würde … | |
| ## Das Hirn verhakt | |
| Arbeiten. Leisten. Leistung zeigen. Es schaffen. Den Aufenthalt zu etwas | |
| nutzen. Mir wird ganz schlecht, alles verkrampft sich, das Hirn verhakt. Es | |
| ist immer so eine Sache mit den Stipendien. All die Erwartungen! Die der | |
| Geber und die eigenen. Das schlechte Gewissen. Die Angst, es beweisen zu | |
| müssen, das man würdig sei, gut ausgewählt, sehr produktiv und enorm | |
| kreativ. Braver Künstler. Die Erwartungen machen klein und ängstlich und | |
| wer kann so schreiben? Wer sind wir überhaupt. Reiche Deutsche? | |
| Zwischen den Ufergrundstücken mit den Motorbooten und den zahlreichen | |
| polierten Automobilen davor, dem ganzen, geradezu pornografischen Reichtum | |
| der Dänen, fühlen wir uns wie die Berliner Hinterhofratten. Bleich und dünn | |
| sind unsere Leiber, die Gesichter vom Grübeln verzerrt und die schwarze | |
| Kleidung, wenn man genau hinsieht, lässt Fäden. Die Männer aus der | |
| Nachbarschaft sind so Kerle, gebräunt springen sie vom Steg ins Wasser, | |
| jagen in ihren Booten über den Sund. Das Wasser ist eisig. Trotz Juli, | |
| trotz Hitze halten unsere Körper es nur wenige Minuten darin aus. Und immer | |
| gilt es, den Quallen, den Wassermen, wie es hier heißt, auszuweichen. Sie | |
| beißen nicht, aber sie erschrecken, wenn sie so weich am Oberschenkel | |
| entlangschlibbern, ganz ohne Vorwarnung. Ich schreibe ein Gedicht über die | |
| Quallen, sonst bin ich eh zu nichts nutze, hier. | |
| Quallen im Sund | |
| was ist der Grund | |
| für ihr Schweben? | |
| Streben sie tatsächlich | |
| überhaupt nicht? | |
| Im Gästebuch des Brecht-Hus lese ich, Robert Habeck von den Grünen sei vor | |
| Jahren hier gewesen. Als Stipendiat, als Hälfte eines Autorenduos, mit | |
| seiner Frau und viel mehr Kindern, als wir sie haben. Aus einem | |
| Zeitungsbericht erfahre ich, dass die beiden ihren Arbeitsalltag offenbar | |
| perfekt organisierten. Enorm viel schafften. Wie nur, frage ich mich, wie, | |
| denn wir: schaffen es nicht. Wir werden zu Quallen. Wir lassen uns treiben, | |
| können gar nicht anders, als uns von den Ereignissen, die die Tage so | |
| bringen, von den Stimmungen der Kinder und der unsrigen, hin und her | |
| schleudern zu lassen. Wir sind gänzlich gefangen in dem | |
| „Wir-müssen-dieses-Buch-machen!“, dem | |
| „Der-Habeck-hat-das-doch-auch-geschafft!“ und dem | |
| „Was-denn-überhaupt-für-ein-Buch?!“, dem | |
| „Wir-wollen-aber-nicht-so-preußisch-arbeiten!“ und dem | |
| „Freisein!-Freisein!“. | |
| Und obendrein das Haus. Das Brecht-Weigel-Hus. Man kann das nicht einfach | |
| bewohnen. Das Haus fordert eine Auseinandersetzung. Mit seinen Menschen. | |
| Mit ihrer Kunst. Mit ihrer Zeit. Die Vergangenheit legt sich wie ein | |
| durchsichtiger Film über uns. Wusstest du, dass an dem Ring im Wohnzimmer, | |
| an dem Balken neben dem Fernseher, dass da früher die Kuh angebunden war, | |
| als das hier noch ein Fischerhaus war? Wusstest du, dass die Kinder von | |
| Weigel und Brecht, Barbara und Stefan, dass sie so alt waren wie unsere, | |
| als sie herkamen? Ob sie damals auch Quallen-Retten gespielt haben? Was | |
| weiß das Haus noch von ihnen? Wie können wir uns dazu verhalten? Wir lesen | |
| über Brecht und Weigel, spazieren und reden darüber, zeichnen Parallelen | |
| zum Heute, fragen und zweifeln, finden Muscheln, sprechen mit Menschen. | |
| Ich lerne Jette kennen, die mit dem Stuhl. Sie ist 82. Sie malt. Wir beide, | |
| sagt sie, du und ich, wir gehören zum selben Stamm. Sie lädt mich zum Tee | |
| ein. Sie zeigt mir ihre Bilder, ihre Pflanzen. Sie ist so da. Sie ist noch | |
| nie in dem Haus des großen Deutschen gewesen, ihrem Nachbarhaus. Diese | |
| ganze Brecht-Verehrung macht mich müde. Ich will nicht in den Chor der | |
| Bewunderer einstimmen, ich will eine Verbindung herstellen. Hier waren | |
| einmal, vor 70 Jahren, eine Zeitlang, ein Mann und eine Frau. Und zwei | |
| Kinder. Sie haben gelebt und gelitten und gearbeitet. Sie haben sich das | |
| Hirn zermartert über ihre Zeit, die Politik, was Großes zu schaffen, für | |
| die Kinder genug zum Essen da zu haben. Eigentlich genau wie wir. | |
| Eigentlich ganz ähnlich. | |
| Natürlich, nein, viel besser. Aber sie waren hier, in der Dämmerung, haben | |
| gezweifelt, schlecht geträumt, erbittert erwartet, was vor ihnen lag, das | |
| Dunkelste des letzten Jahrhunderts. Aber sie saßen auch unterm Apfelbaum, | |
| mit Walter Benjamin beim Schach. Ich dagegen schlafe unterm Apfelbaum, | |
| mittags, im Gras und dann, später, finde ich das Gedicht. Über Quallen. Im | |
| Sund. Von Bertolt Brecht. In der Gedichtsammlung, die ich mitgenommen | |
| hatte. Ich springe auf, renne durch Haus und Garten und Schuppen, ich | |
| versammle die Familie, atemlos: | |
| Quallen im Sund | |
| Sind kein schöner Fund. | |
| Die roten beißen. | |
| Aber man soll keinen Stein darauf schmeißen. | |
| (Weil sie sonst reißen) | |
| 21 Jun 2020 | |
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| ## AUTOREN | |
| Kirsten Reinhardt | |
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