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# taz.de -- Umgang mit Corona-Lockerungen: Abstand aus Anstand
> Auch wer sich für nicht gefährdet hält, sollte aus Rücksicht auf
> Risikogruppen Coronaregeln einhalten.
Bild: Die Frage des Jahres 2020: Wie viel sind 1,50 Meter im Alltag?
Wer sich an die Regeln halten will, kennt solche Diskussionen: Was ist mit
dem Geburtstagsfest von F., 40 Leute, vom Betreiber der Kneipe in Berlin
wurde signalisiert, man könnte den großen Extraraum mieten, der sei ja groß
genug, um Abstand zu halten. Hm. Ein geschlossener Raum. Fete mit Alkohol
und Musik. Livemusik. Livemusik mit Gesang. Gesang, der den Ruf hat,
meterweit möglicherweise verseuchte Aerosole durch die Luft zu schleudern.
Und das mit dem Abstand kann man sowieso vergessen, wenn man alte Bekannte
trifft, denen man wahrscheinlich ins Ohr schreien muss, weil die Bands
garantiert aufdrehen, wo man doch so lange nicht mehr live spielen durfte.
Andererseits: Was sollen diese Regeln? Kitas und Schulen in Berlin öffnen
in einigen Wochen genauso wie vor der Pandemie. Wer an einem heißen Tag an
einen Badestrand der Berliner Stadtseen fährt, hat den Eindruck, Corona
hätte es nie gegeben.
Am Ende aber wird die Geburtstagsfete von F. doch verschoben. Viele Ältere
wären gekommen, diese Altersgruppe, die auf Feten schon mal über die
Prostata redet. Risikogruppe! Also lieber nicht. Die Frage bleibt: Was tun,
jetzt, wo die Coronaregeln allenthalben gelockert werden? Gräben tun sich
auf zwischen denen, die am liebsten so tun würden, als wäre alles so wie
früher vor Corona, und den anderen, die diesem Stimmungswechsel nicht
trauen und darauf hinweisen, dass es bei der [1][Spanischen Grippe] ja auch
eine zweite, eine dritte Welle gegeben hat.
## Verantwortung für sich und das Kollektiv
Wir sind in einer Phase angekommen, in der jeder im Alltag seinen ganz
persönlichen Coronaschutz verfolgt, oft nur noch nach den allergröbsten
Regeln. Es reicht aber nicht, zu glauben, alles, was open-air stattfindet,
sei grundsätzlich okay und in Räumen hält man halt zu Fremden ein bisserl
Abstand. Jede und jeder trägt nach wie vor eine doppelte Verantwortung:
eine für sich selbst und eine für das Kollektiv. Jede, die sich selbst
infiziert, kann auch zur Verteilerin des Virus werden. Und jeder, der die
Abstandsregeln offen bricht, setzt damit nach außen auch Maßstäbe: Hey,
nehmt das Ganze nicht so ernst! Dabei haben Studien gerade wieder gezeigt,
dass die [2][Maskenpflicht, beispielsweise in Jena, doch viel gebracht hat
im Kampf gegen das Virus].
Im Alltag sieht man deshalb Paradoxes: Mehr alte Menschen als junge Leute
laufen mit Masken herum, obwohl die Maske vor allem dazu dient, die Umwelt
vor der TrägerIn zu schützen und nicht umgekehrt. Tausende junge Leute
wiederum gehen auf Demonstrationen, nahmen an Pfingsten ungeschützt an
einer Schlauchboot-Party auf dem Landwehrkanal in Berlin teil. Ist hip oder
ein Arschloch, wer alle Abstandsregeln ignoriert?
Als die evangelische Theologin Margot Käßmann, 61, einen „Deal der
Generationen“ vorschlug, erntete sie heftige Kritik. Ihre Idee: Wenn die
vulnerablen Älteren daheimblieben, um sich vor Infektionen zu schützen,
könnten die Jüngeren doch unbekümmert raus. Das war der Gedanke der
„[3][Umkehrisolation]“. Es gibt in Deutschland allerdings 20 Millionen
RentnerInnen, 7 Millionen DiabetikerInnen und Hunderttausende von Familien
mit Schwerstkranken in ihrer Mitte. Ihnen zu raten, doch lieber zu Hause zu
bleiben, damit die übrigen in Cliquen locker draußen abhängen können, das
kommt nicht gut an.
## Inklusion statt Umkehrisolation
Die Aufhebung vieler Maßnahmen könnte sich aber auch ohne große Ansage in
eine verdeckte „Umkehrisolation“ verwandeln, solange es kein Heilmittel und
keinen Impfstoff gegen Covid-19 gibt. Denn wer einer vulnerablen Gruppe
angehört, hat unter Umständen große Furcht, unter Menschen zu gehen, in den
Supermarkt, in die U-Bahn, wenn alle ungeschützt rumlaufen und man selbst
im seltenen Falle einer Ansteckung schwere gesundheitliche Konsequenzen
fürchten muss.
Wir müssen daher neu denken, und zwar „inklusiv“. Inklusion bedeutet, dass
auch Menschen mit Vorerkrankungen sich noch auf Veranstaltungen mit vielen
Menschen trauen. Das geht aber nur, wenn auch die weniger Gefährdeten
Masken tragen und Abstand halten. Die Abstandsregel sollte sich in eine
Anstandsregel verwandeln. Unterschiede in den persönlichen Risiken lassen
sich dabei nicht grundsätzlich einebnen, das muss man auch ehrlich sagen.
Es wird für Hochaltrige, für DiabetikerInnen, für Lungenkranke immer
riskanter sein, dorthin zu gehen, wo die Ansteckungsgefahr größer ist:
Kinos oder Restaurants.
In größeren Menschenmengen sollten aber Masken für alle zum inklusiven
Outfit gehören, als Botschaft an die Gefährdeten: Ihr könnt mitmachen. Die
für Sonntag geplante „Unteilbar“- Demonstration in mehreren Städten, wo m…
Maske und jeweils drei Meter Abstand eine „Bänderkette“ gebildet wird, ist
dafür ein gutes Beispiel.
## Die Angst vor der U-Bahn
Strenge Beschränkungen, die auch kontrolliert werden, sollten weiterhin in
lebenswichtigen Bereichen gelten, deren Nutzung ohne Alternative ist:
U-Bahnen, Busse, Supermärkte. Es ist beängstigend für einen Vorerkrankten,
in eine U-Bahn steigen zu müssen, wenn nur die Hälfte der Leute dort eine
Maske trägt. Im Einzelhandel und im öffentlichen Nahverkehr sollten eine
Maskenpflicht und Abstandsregeln bis auf Weiteres verbindlich durchgesetzt
werden.
Der Spielraum für persönliche Entscheidungen bleibt ja trotzdem. In
Österreich wurde der Begriff der „Risikogemeinschaft“ geprägt. In der
„Risikogemeinschaft“ treffen sich Erwachsene aus unterschiedlichen
Haushalten, ohne Mindestabstand. Die „Risikogemeinschaft“ stellt man sich
jeweils selbst zusammen. Die Mitverantwortung für die Prävention wird
dadurch in eine Aufforderung umgewandelt, den Nahkontakt zu
haushaltsfremden Personen überschaubar zu halten.
Wir brauchen derzeit einen Mix aus Verboten und Geboten, um die
Gesellschaft auch für Vulnerable „barrierefrei“ zu halten. Wie es
längerfristig weitergeht, werden dann die Infektionszahlen zeigen.
12 Jun 2020
## LINKS
[1] /Grippewelle-vor-100-Jahren/!5676914
[2] /Maskenpflicht-hilft-gegen-Corona/!5688043
[3] /SeniorInnen-in-der-Coronakrise/!5689181
## AUTOREN
Barbara Dribbusch
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Schwerpunkt Coronavirus
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