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# taz.de -- Die Wahrheit: Im Goldrausch der Coronanacht
> Fieberhaft wird nach einem Heilmittel gegen das heimtückische Virus
> gesucht. Dabei gibt es den Zauberstoff doch längst: Goldsaft.
Bild: Wundermittel, das pralle Panzer schafft: Rübenkraut
Es ist fast schon bedauerlich: Mir sterben die Feinde weg. Am vorigen
Wochenende der Fantasy-Schriftsteller Jörg Schröder. Legendär sein Satz:
„Herr Ringel, Sie sind full of shit.“ Nihil nisi bene, aber in mir ist zwar
ein dunkler, doch letztlich zuckersüßer und wertvoller Zauberstoff, dem ich
meinen prallen Panzer gegen alle Anfeindungen verdanke.
Alle Welt klagt derzeit über die Coronaplauze, und auch ich habe im
Heimtunnel, der nun schon drei Monate mein isolierter Arbeitsplatz ist, gut
fünf Kilo zugelegt. Nicht wegen des Alkohols, der recht mäßig fließt; nicht
wegen der mangelnden Bewegung, da ich wie so viele nach der Arbeit Rad
fahre; und nicht wegen des Essens, das zwar mitunter opulent ausfällt, wenn
jeden Tag gekocht wird – nein, es ist die Wundermaterie, die ich in der
Coronanacht des Daseins täglich mehrmals in mich aufnehme. Die mich – das
sei allen Generationen von Feinden, die ja immer wieder nachwachsen, damit
es nicht langweilig wird in der Wahrheit, ins Stammbuch geschrieben –, die
mich unverwundbar macht, selbst gegen ein heimtückisches Virus und seine
Begleiterscheinungen.
Meine Madeleine heißt Goldsaft. Während Proust die „Suche nach der
verlorenen Zeit“ mit einem Biss in einen kleinen Kuchen beginnen lässt,
führen mich die schwarzen, süßen Tropfen des Rübenkrauts in die tiefen,
tiefen Abgründe einer niederrheinischen Kindheit zurück. Überschrieben ist
dieses Kapitel voller dunkler Flecken auf dem weißen Bademantel eines
elfjährigen Jungen mit dem Titel: „Sapporo“.
Noch heute, wenn ich einen der leuchtend gelben Becher mit dem Bild des
Rübenkrautfeldes unter dem grünen Burghügel entdecke, denke ich als Erstes:
„Sapporo 1972“. Ich weiß nicht, welche Verirrungen andere Elfjährige in
Atem hielten, ich jedenfalls aß Grafschafter Goldsaft – klebriges
Rübenkraut auf wuchtigen Weißbrotschnitten mit fingerbreitem Quark. Dabei
sah ich im Fernsehen Eisschnelllauf, immer wieder Eisschnelllauf.
Im Winter 1972 fanden die Olympischen Spiele in Japan statt, und ich
versuchte, hibbelig vor dem Fernsehgerät hin und her laufend, die wie mit
einer Axt vom Weißbrotbaum gehauenen Riesenkillen auf einer Hand zu
balancieren, bevor ich eine nach der anderen in mich hineinschaufelte,
während die Kufenläufer in ihren eng anliegenden Haubenanzügen übers Eis
jagten.
Rübenkraut war wie Haschisch, von dem wir vage gehört hatten, dass es
süchtig machte, so süchtig, wie wir es nach Süßem waren. Goldsaft war immer
auch ein Risiko. Wir nannten unsere Bademäntel Maikäfer und meinten
Marienkäfer, weil sie so schön gepunktet waren vom zäh und manchmal auch
absichtlich herabtropfenden Sirup. Bis die Mutter herübersah, die Augen
verdrehte und aufstöhnte. Am besten isst man Rübenkraut nackt, giggelten
wir Geschwister am Frühstückstisch, damit man anschließend direkt baden
kann.
## Lokalpatriot in der Tristesse
Diese süße Sucht machte mich regelrecht stolz auf den Grafschafter
Goldsaft, war ich doch ein echter Lokalpatriot. Wenn schon dieser triste
Ort Moers, in dem ich aufwuchs, sonst nichts zu bieten hatte, war da
wenigstens das „Grafschafter“. Denn meine Heimatstadt war historisch eine
Grafschaft gewesen, und so nannte sich zum Beispiel der Lokalteil der
Zeitung: „Der Grafschafter“, bei der mein Großvater „Mitglied der
Redaktion“ war, wie sein Presseausweis mit dem Hakenkreuz vom 1. Juni 1934
belegt.
Lange Jahre glaubte ich, dass Grafschafter Goldsaft in unserem Städtchen
produziert wurde, auch wenn ich nie eine Fabrik oder Ähnliches dort bemerkt
hatte. Aber jedes Kind aß Rübenkraut, und schon meine Mutter erzählte mir,
dass sie in ihrer Nachkriegsjugend nichts sehnlicher erwartet hatte als das
Gebimmel des Krauters, dessen Dreiradwagen einmal in der Woche in die
Straße einbog. Dann schleppte eines der sechs Kinder den Rübenkrauteimer
hinaus, der bis zum Rand mit Goldsaft gefüllt wurde. Deckel drauf! Das
musste reichen bis zur nächsten Woche, es war das einzig Süße, was es geben
würde. Eskortiert von sechs Goldwächtern wurde der schwere Eimer in die
Küche transportiert.
Moers war ein leeres Gefäß, in das Bedeutung nur gefüllt wurde durch das
Fernsehfenster, in dem sensationelle Ereignisse zu besichtigen waren. Also
sah der elfjährige Junge dabei zu, wie berühmte Menschen auf Kufen übers
japanische Eis schlitterten, und damit auch er etwas zur Bedeutung des
Augenblicks beitragen konnte, streckte er all den wichtigen Damen und
Herren da draußen begeistert seine Rübenkrautschnitten entgegen: Seht her,
ihr habt vielleicht olympische Goldmedaillen, aber ich habe Grafschafter
Goldsaft. Als plötzlich der Rübentraum zerplatzte, die Kindheit war vorbei.
Ich erfuhr, dass Grafschafter Goldsaft aus einer anderen Stadt kam, und aß
zum Frühstück nur noch Leberwurst.
## Wut in erbärmlicher Existenz
Ich war schwer beleidigt und strich morgens auf Entzug um den gelben Becher
herum – angetrieben von einer pubertären Wut. Wie sollte ich künftig leben
ohne die einzig gewisse Größe in meiner erbärmlichen Existenz? Wer hatte
meinen Goldsaft gestohlen? Und wem hatte ich diese Täuschung und
Enttäuschung zu verdanken?
Wütend war ich aber vor allem auf mich selbst, hätte ich das alles doch
viel früher erfahren können. Ich hätte ja nur mal genauer hinschauen
müssen: Seit wann gab es, wie auf dem Goldsaft-Becher abgebildet, Burgen
und Hügel am flachen Niederrhein? Nun waren mir die Augen geöffnet worden,
und ich las auf dem Becher, dass die Grafschafter Krautfabrik in Meckenheim
zu Hause war.
Jetzt wollte ich erst recht alles wissen über die dunklen Seiten des
Grafschafter Goldsafts. Ich war mir sicher, ich würde mit dem gleichen
detektivischen Eifer an die Sache herangehen, wie ich es von den „drei
Fragezeichen“ kannte. Doch wenige Tage später kam mir Günter Netzer und
eine Autogrammstunde, die der Spieler des Jahres in der Kreissparkasse gab,
dazwischen: Ich wurde Fußballfan. Mit den Jahren verblasste dann die
Erinnerung an die Rübenkrautzeit.
## Kochbuch in der Coronazeit
Bis mir mitten in der Coronazeit ein Buch aus der Grafschafter Krautfabrik
wieder in die Hände fiel: „Kochen und backen mit Grafschafter“. Ein ganz
rührender Band, wollen die Verfasser doch der ganzen Welt nahebringen, dass
beinah jede Speise mit Rübenkraut oder einem verwandten Produkt aus dem
Meckenheimer Haus verfeinert werden könne, ja müsse, egal ob es sich um
„Puten-Tacos mit Rucola“ oder „Gambas mit Korianderblättern“ handelt.
Selbst Cocktails wie „Planter’s Plunch“ sollen mit dem Nebenprodukt
„Apfelkraut“ veredelt werden. Was schmeckt, wie es klingt – plantsch!
Ganz nebenbei jedoch präsentiert das Kochbuch jene so lang vermissten
Erklärungen: Die Geheimnisse des Grafschafter Goldsaftes werden hier
endlich gelüftet. So entstand die Zuckerrübenfabrikation im
nordrhein-westfälischen Meckenheim schon im Jahr 1904. Der Rübenbauer und
Ziegeleibesitzer Josef Schmitz begann mit der Rübensirupproduktion
nebenher. Zunächst wurde das Rübenkraut nur in die nähere Umgebung
verkauft. Unter der Führung seines Sohnes Albert expandierte der Betrieb ab
1920. Nach dem Zweiten Weltkrieg kam der populäre gelbe Becher auf den
Markt. Dem Buch zufolge arbeiten über 100 Mitarbeiter in dem mittlerweile
127 Jahre alten Familienbetrieb.
Nicht nur die Firmengeschichte, sondern auch die Produktionsweise wird
detailliert beschrieben: Für die Herstellung des Zuckerrübensirups wird
ausschließlich der Rübenkörper verwendet; er erhält die entscheidenden
Bestandteile, vor allem Zucker. Die wichtigste in der Rübe enthaltene
Zuckerart ist die Saccharose. Wie die Krautfabrikanten immer wieder
betonen, ist der Rübensirup allerdings kein Vor- oder Nachprodukt des
weißen Haushaltszuckers. Bei der Zuckerrübenproduktion würden alle
Inhaltsstoffe der Rübe verwertet, deshalb sei der Rübensirup ein reines
Naturprodukt. Von dem während der Erntezeit in Meckenheim rund 60.000
Tonnen Rüben verarbeitet werden, aus denen man etwa 15.000 Tonnen Sirup
herstellt. Insgesamt werden 20.000 Tonnen Brotaufstrich und 15.000 Tonnen
Industriesirup als Grundstoff von Likören, Eiscremes, aber auch Hustensaft
produziert.
## Mysterien im Sauerbraten
Und wie es mit allen Mysterien ist, die schließlich aufgeklärt werden,
verliert auch der Grafschafter Goldsaft mit diesen nüchternen Daten viel
von seinem Reiz. Der sich nur über den Geschmack wieder hereinholen lässt.
Deshalb sollte man durchaus versuchen, die Rezepte aus dem Grafschafter
Kochbuch nachzukochen. Ein Gericht passt hier besonders: der „Rheinische
Sauerbraten“.
Der Bratensauce werden nach dem Passieren drei Esslöffel Goldsaft
untergerührt. Gegen die kindliche Rübensüße muss die fein-saure und
erwachsene Marinade mächtig ankämpfen. Es ist das „Himmel und
Hölle“-Prinzip der rheinischen Küche, das den Charakter der Rheinländer
widerspiegelt: in der einen Minute himmelhoch jauchzend, in der nächsten zu
Tode betrübt.
Um endgültig im Himmel zu landen, empfiehlt sich als Dessert ein schlichter
Pfannkuchen aus Mehl, Eiern und Milch, dem mit Rübenkraut, Apfel- oder
Pflaumenmus und – jetzt ist sowieso schon alles egal – Cointreau oder
Amaretto gar nicht leichte Geschmackspakete aufgeschultert werden. Nach der
Kalorienhölle frage jetzt bitte keiner. Besonders in diesen dunklen
Coronazeiten.
Eines aber sollte man beachten: Beim Verzehr keine Ausgehgarderobe! Wobei
ausgehen momentan sowieso fast unmöglich ist. Der gute alte Grafschafter
Goldsaft wird stilecht nur im Bademantel zu sich genommen.
17 Jun 2020
## AUTOREN
Michael Ringel
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