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# taz.de -- Tanztheater-Premiere in Dresden: Alltag im Warteslot
> Die Bürgerbühne am Staatsschauspiel Dresden wagt sich an die Freiluft:
> „Veduta – Stadtansichten“ – eine der wenigen Premieren dieser Spielze…
Bild: Station Turnhalle, v.l.n.r.: Maciey Sado, Nancy Steininger, Darya Zaretsk…
Es Fastenbrechen zu nennen, wäre fast euphemistisch. Unterwegs zu einer
Premiere in Dresden fühle ich mich eher wie eine Spielverderberin oder gar
Verräterin. Es ist einer der ersten Auswärtsaufträge, die seit Beginn der
Coronkrise von der Kulturredaktion der taz vergeben werden. Meine erst
zweite Fahrt mit öffentlichen Verkehrsmitteln seit März.
Im Vergleich zum Ostsee-Ausflug am sogenannten [1][Vatertag] verläuft die
Bahnfahrt unspektakulär. Keine um sich spuckenden, bei offener Klotür
pinkelnden Lebewesen, keine wegen Servicemängeln gesperrten Abteile.
Vielmehr hat der IC nach Dresden – ein österreichisches Modell – sogar
Desinfektionsmittel auf dem Klo. Automatisch öffnende Türen allerdings
nicht. Dafür klappt die kontaktfreie Fahrkartenkontrolle dieses Mal.
Aber muss die Fahrt sein? Muss die Premiere sein? Jetzt, da – obwohl die
Vorbereitungen für die Herbstpremieren schon auf Hochtouren laufen – doch
irgendwie noch die Hoffnung besteht, alles könnte anders werden. Die
Hoffnung, das Produzieren im Kunstbereich könnte ganz neu gedacht werden.
## Raus aus der Blase
„Wir brauchen eine Ökonomie des Lebens und keine Ökonomie des Mehrwerts!“,
forderte Theatermacher [2][Milo Rau] unlängst. Andererseits ist es
sinnvoll, den Abgleich zu machen und aus der Berliner Blase rauszukommen.
Dass die Hilfsmaßnahmen für die Künste im Vergleich der Bundesländer sehr
unterschiedlich ausgefallen sind, ist bekannt. Berlin geht es zurzeit
verhältnismäßig gut. In Dresden hingegen wurde bereits am 21. April eine
Haushaltssperre erlassen. Sie gilt für städtisch finanzierte Kunstprojekte
ebenso wie beispielsweise für sämtliche Innovations- und
Integrationsprojekte von „Zukunftsstadt Dresden“.
Das Staatsschauspiel, wohin ich zur Premiere von „Veduta – Stadtansichten“
des Berliner Choreografen Sebastian Matthias reise, ist dank der
Landesfinanzierung nicht betroffen. Der Titel der Inszenierung lässt an die
berühmten „Veduten“ der Malerei denken. In diesem Fall an das Gemälde
„Dresden vom rechten Elbufer unterhalb der Augustbrücke“ von Bernardo
Bellotto, entstanden 1748. Matthias’ Stadtansicht verbindet rechtes und
linkes Ufer und ist als ausgiebiger Spaziergang zwischen sechs Stationen
angelegt.
Wobei „Spaziergang“ in Dresden ein kontaminiertes Wort ist. Unsere
Aktivität wird daher „Tanzstreifzug“ genannt. Sie war, um sich von den
fremdenfeindlichen Massenaufläufen abzugrenzen, die die Dresdner Kulisse
benutzen, von Anfang an nicht im Gruppenverband konzipiert – was „Veduta“
nun wiederum pandemiekompatibel macht.
## Dresdner Modell macht Schule
Das Stück, eine der wenigen Tanzinszenierungen, die derzeit in Deutschland
live stattfinden, wurde für die Bürgerbühne des Staatsschauspiels Dresden
erarbeitet. Das Modell der Bürgerbühne, die seit 2009 existiert, wurde
vielfach auch von anderen Städten adaptiert.
In Dresden stehen im Jahr fünf Premieren, bei denen Inszenierungsprofis mit
Laienschauspieler*innen zusammenarbeiten, im Programm. Die Zahl
der Bewerber*innen war auch in diesem Fall wieder hoch. Daneben gibt es
mehrere Klubs, die Werkstattaufführungen produzieren, sowie das
[3][„Montagscafé“], bei dem sich Menschen solidarisch zum Beisammensein
treffen.
Laut Bürgerbühnenleiter Tobias Rausch vermissen die Teilnehmer*innen das
Café zurzeit besonders schmerzlich. Seine Existenz gilt ja als Zeichen
gegen die jeweils montags stattfindenden fremdenfeindlichen
Demonstrationen. Deren Organisatoren haben für heute Abend auf der Website
angekündigt, „wieder ohne Teilnehmerbegrenzung und ohne ‚Maullappen‘ auf
die Straße“ zu gehen. Und weiter im Ton der Verschwörungstheorien: „Es wi…
höchste Zeit, sich von der künstlich hinausgezögerten Grippe zu
verabschieden...“
## Nur mit Maske
Für „Veduta“ gilt, obwohl bei den Eins-zu-eins-Begegnungen unter freiem
Himmel der Mindestabstand eingehalten wird, Maskenpflicht. Auch das kann
als Zeichen gesehen werden. Man wolle sich seine Agenda aber auch nicht von
fremdenfeindlichen Demonstranten bestimmen lassen, sagt Tobias Rausch, der
sich damit nicht speziell auf die Maskenthematik bezieht. Die in Dresden
sowieso noch eine zusätzliche Dimension hat: Bürgermeister Dirk Hilbert
(FDP) hat sich beim Austeilen kostenfreier Masken, das zu
Passantenballungen geführt haben soll, eine Strafanzeige eingehandelt. Von
links.
Sich unter diesen Umständen frei zu bewegen, scheint unmöglich. Die
Stimmung ist gedrückt. Und genau das ist der Grund, warum Choreograf
Sebastian Matthias dennoch an seiner Premiere festhielt. Er wolle, wie er
mir im Warte-Slot zu einer Station sagt, mit den Laienperformer*innen
Handwerkszeug entwickeln, um sich im Stadtraum selbstbestimmt bewegen zu
können. Wie reagiert man zum Beispiel, wenn jemand aggressiv in den eigenen
Raum eindringt? Wenn jemand beim Proben ungefragt stört? Zum Beispiel mit
dem Satz: Das ist keine Kunst.
Am meisten provoziert fühlten sich Passanten durch die Proben an der ersten
Station, der einzigen, an der wirklich live (im postmodernen Stil) getanzt
wird. Bei der Premiere fällt die fast komplette Ignoranz von Passanten auf
dem breiten Trottoir auf. Als könnte man schon durch ein interessiertes
Stehenbleiben der Mittäterschaft verdächtigt werden. An den anderen
„Veduta“-Stationen in der Fußgängerzone, vor der Frauenkirche und dem
Neubau der Synagoge präsentieren sich dem Publikum gesellschaftspolitische
Geschichten aus dem Alltag der Spieler*innen, kombiniert mit
Handyvideos.
## Die Wände hochgehen
Darauf zu sehen sind Tanzsequenzen in pandemiebedingt für den
Publikumsverkehr gesperrten Räumen wie dem Arbeitsamt, einem Klub und einem
Nobelhotel. Leute, die einander ausweichen, die die Wände hochgehen oder
das normale Leben imaginieren. Die Körperspannung der Coronazeit, die
Reflexe des Ausweichens, wenn man sich zu nahe kommt. Positiv fällt das
unversehrte „Black Lives Matter“-Plakat auf, das gegenüber der Frauenkirche
hängt. Die letzte Station findet im Hof der Staatsschauspiel-Spielstätte
in der Neustadt statt. Eine Gruppenszene, angelegt als Parcours mit
abgegrenzten Einzelfeldern.
Auf einem desinfizierten Handy kann ich mich von oben sehen. Müde tauche
ich danach wieder in den disharmonischen Historismus der Altstadt ab. Der
Fahrstuhl im Hotel darf von nur „maximal 1 Person“ benutzt werden. Das
Frühstück wird in Schichten angeboten. „Veduta“ ist zweifellos eines der
Stücke der Stunde. Eines, bei dem ich froh bin, als es zu Ende ist. Trotz
Open End.
15 Jun 2020
## LINKS
[1] /Der-Vatertag-wird-2020-noch-gruseliger/!5684259/
[2] /Theaterprojekt-mit-Landlosen-in-Brasilien/!5670534/
[3] https://www.staatsschauspiel-dresden.de/spielplan/a-z/montagscafe/
## AUTOREN
Astrid Kaminski
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