# taz.de -- Kampf gegen US-Polizeigewalt: Aus Gewalt Politik formen | |
> Zu viele Namen, zu viele Opfer. Es ist Zeit, die sinnlose Polizeigewalt | |
> in konkrete politische Reformen umzumünzen. | |
George Floyds grausamer Tod in den Händen des Polizeibeamten Derek Chauvin | |
bleibt der Zündfunke für weltweite Demonstrationen für Bürgerrechte und | |
gegen Polizeigewalt. In Antwort auf den nicht abreißenden Proteststrom hat | |
die US-Polizei ihren Personaleinsatz intensiviert. Für Straßenschlachten | |
hochgerüstete Beamte haben durch Anwendung geradezu lehrbuchhafter brutaler | |
Methoden das Problem noch verschärft. Der wenig bekannte Schuss auf Derrick | |
Sanderlin während einer „Black Lives Matter“-Demo am 29. Mai in San José, | |
Kalifornien steht beispielhaft für den Wendepunkt, an dem die USA sich in | |
ihrem langen, aber sporadischen Kampf befinden. Es ist ein Kampf gegen | |
Rassismus – und damit auch gegen die eigene Polizei. | |
Sanderlin, 27, ist ein Graswurzel-Aktivist und Lokalpolitiker, der sich | |
seit Jahren für Sozialarbeit in San José engagiert. Er ist Afroamerikaner. | |
Er und seine Frau Cayla, mit der er ein Kind geplant hat, leisteten während | |
des Corona-Lockdowns Unterstützung für die ärmeren BürgerInnen von San | |
José. Als die Demos sich Ende Mai zügig landesweit entwickelten, bildeten | |
San José und die Bucht von San Francisco ein intellektuelles, weltweit | |
vernetztes Zentrum der Proteste. Sowohl für Sanderlin als auch für die | |
BürgerInnen von San Francisco, Los Angeles, und New York waren es | |
willkommene Ereignisse, an denen man selbstverständlich teilnimmt. | |
San José ist nicht irgendeine mittelgroße kalifornische Stadt in | |
Strandnähe. Auf der südlichen Seite der Bucht, mit Berkeley und San | |
Francisco im Norden, ist es ein wichtiges Geschäfts- und Wohngebiet des | |
Silicon Valley. Nachbar ist die Kleinstadt Cupertino, Hauptquartier von | |
Apple. Das durchschnittliche Jahreseinkommen in San José liegt bei 122,000 | |
Dollar – etwa dem Doppelten des amerikanischen Durchschnitts. | |
San José ist also gesellschaftlich liberal und sehr wohlhabend – alles, was | |
Alabama, ein Südstaat mit einer Geschichte rassistischer Morde, die bis ins | |
18. Jahrhundert zurückreicht, nicht ist. Und doch: Als die „Black Lives | |
Matter“-Demos nach Floyds Tod an Kraft gewannen, reagierte die Polizei im | |
angeblich aufgeklärten San José oft mit simpler, sinnloser Brutalität. | |
Am 29. Mai, vier Tage nach Floyds Tod, nahm Derrick Sanderlin an einer | |
größeren Demonstration nahe dem Rathaus von San José teil. Das Rathaus | |
liegt nördlich der Martin-Luther-King-Jr.-Bibliothek und dem „Olympic Black | |
Power“-Denkmal, das an Tommie Smith und John Carlos erinnert, zwei | |
afroamerikanische Leichtathleten, die 1968 auf der Tribüne in Mexico City | |
ihre 200-Meter-Siege mit dem Black-Power-Gruß gefeiert hatten. | |
## Gummipatronen für die Aufstandsbekämpfung | |
Nicht weit von diesen Statuen beobachtete Derrick Sanderlin, wie eine Reihe | |
von Polizisten mit sogenannten weniger tödlichen Patronen, auch als | |
Gummipatronen bekannt, auf DemonstrantInnen feuerten. Solche Patronen sind | |
in einigen Kalibern von verschiedenen Hersteller verfügbar. Sie wurden | |
gezielt für die Kontrolle von Menschenmengen und für die Aufstandsbekämpung | |
entwickelt. Statt in den Körper einzudringen, führten sie nur zu stumpfen | |
Aufprallverletzungen. Als die Patronen im allgemeinen Gebrauch waren, | |
merkte die Polizei, dass sie auch tödlich sein können. Die ballistische | |
Bezeichnung wurde in „weniger tödlich“ verändert, die Patronen aber werden | |
unverändert benutzt. | |
An diesem 29. Mai sah Derrick Sanderlin, wie Polizisten einem Mädchen in | |
die Brust schossen. Er beschloss, sich zwischen die Polizei und die | |
Demonstranten zu stellen – wie der Mann, der auf dem Tienanmenplatz ganz | |
allein versuchte, das Massaker zu verhindern. Sanderlin richtete sich, mit | |
erhobenen Händen, etwa vier Meter vor den Polizisten auf. Er trug keine | |
Panzerung und machte keine bedrohliche Bewegung. In den von Handys | |
aufgenommenen Zeugenvideos sieht man, dass er einen Coronamundschutz trägt. | |
Im Führen von Gesprächen ist Sanderlin besonders gut geschult: Er arbeitet | |
seit drei Jahren im San José Police Department als hauseigener | |
Antidiskriminierungstrainer. Er kennt sowohl den Polizeichef Eddie Garcia | |
gut als auch viele Offiziere, die er ausgebildet hat. Doch in dem | |
Augenblick hat die Polizei anderes im Sinn als ein Gespräch über ihre | |
Vorurteile. | |
Einem Reporter der San José Mercury News erzählte Sanderlin von dem sehr | |
kurzen Gespräch: „Ich trete in die Feuerlinie, und ein paar Polizisten | |
sagen: ‚Beweg dich.‘ Ich sage, mit erhobenen Händen: ‚Ich kann das nicht | |
tun, bitte macht das hier nicht.‘ Ein anderer tritt hinter ihnen hervor, | |
zeigt auf mich und sagt: ‚Beweg dich.‘ Und fragt dann: ‚Du bewegst dich | |
nicht?‘ Ich schüttle den Kopf, halte mein Plakat vor die Brust, und denke: | |
‚Hoffentlich schießt er nicht.‘ Er feuert, und ich merke, dass er nicht auf | |
die Brust gezielt hat. Er traf mich direkt in die Leistengegend.'‘ | |
Die Patrone zerstörte einen seiner Hoden, laut seiner Ärzte ist er | |
womöglich jetzt unfruchtbar. Als der Schuss auf einen Ausbilder der Polizei | |
von San José bekannt wurde, rief Chefpolizist Garcia persönlich bei | |
Sanderlin an; er betonte, man werde den Vorfall „untersuchen“. Unklar ist, | |
was Garcia genau mit „untersuchen“ meint. | |
Glasklar hingegen ist Folgendes: Wenn eine amerikanische Polizeieinheit in | |
einer der gebildetsten und reichsten Städte des Landes, ganz ohne | |
provoziert worden zu sein, einen ihrer eigenen zivilen Ausbilder mit einer | |
‚Riot control‘- Waffe anschießt, dann liegt das politische Problem bei der | |
Polizei, und das Problem in der Gesellschaft, die Architektin dieser | |
Polizei ist, sehr tief. | |
Man kann sagen, dass Amerika seit vierhundert Jahren mit seinen ethnischen | |
Trennlinien kämpft – seit die ersten SiedlerInnen in Virginia und am Golf | |
von Mexiko angefangen haben, die UreinwohnerInnen zurückzudrängen und ihr | |
Land in Besitz zu nehmen. Jedes „koloniale“ Streben ist von Natur aus | |
ausbeuterisch. Die weißen AmerikanerInnen des 16. und 17. Jahrhunderts, | |
also EuropäerInnen mit vorwiegend französischer, spanischer oder englischer | |
Abstammung, waren eifrig dabei. | |
In kürzester Zeit hatten die SiedlerInnen einen florierenden Sklavenhandel | |
aufgebaut, eine riesige Maschinerie, die errichtet wurde, um sowohl die | |
Menschen als auch die reichen natürlichen Ressourcen auszubeuten. Es ist | |
kein Zufall, dass letzte Woche bei einer George-Floyd/„Black Lives | |
Matter“-Demonstration in Großbritannien die [1][Statue von Edward Colston] | |
ins Hafenbecken von Bristol geworfen wurde – der Mann war einer der | |
führenden Sklavenhändler für die amerikanischen Kolonien. | |
Angetrieben von einer endlosen Reihe fragwürdiger Polizeischüsse in allen | |
Teilen der Vereinigten Staaten – an deren Opfer wir uns namentlich wieder | |
erinnern: Eric Garner, Alton Sterling, Philando Castile, Breonna Taylor, | |
und nicht zuletzt, der 12-jährige Tamir Rice, getötet in Cleveland, als er | |
mit einer Spielzeug-Pistole spielte –, hat die „Black Lives | |
Matter“-Bewegung an Wucht gewonnen. Wichtiger noch: Zum ersten Mal besteht | |
die reale Möglichkeit, die Polizei in den Städten von Grund auf gesetzlich | |
zu verändern. | |
Dies wird ein längerer Prozess mit offenem Ausgang: Denn es ist ein weiter | |
Weg vom Marschieren mit einem Plakat, das fordert: „Entzieht der Polizei | |
die Finanzierung“ bis zu harten haushaltspolitischen Verhandlungen darüber, | |
wie viele Millionen man aus dem Waffenbudget der Polizei in die | |
Sozialfürsorge verschieben darf. | |
Die Debatte darüber wird zuerst dort stattfinden, wo es die Toten gegeben | |
hat: auf städtischer und kommunaler Ebene. Die beteiligten | |
BürgermeisterInnen, Polizeichefs, StadträtInnen, die BürgerInnen und deren | |
PolizistInnen, kennen einander. Die Debatte wird auch außerhalb der | |
bürokratischen Reichweite des gegenwärtigen Bewohners des Weißen Hauses | |
stattfinden. Das heißt, es besteht wenigstens die Chance darauf, dass es | |
eine politisch gesunde Diskussion werden könnte. | |
## Der Präsident ist bedeutungslos | |
Betrachtet man Trumps ‚Performance‘ während der Pandemie – etwa, als er | |
live im Fernsehen vorschlug, Bleichmittel zu spritzen –, dann hat er den | |
AmerikanerInnen in den letzten drei Monaten den dringenden Eindruck | |
vermittelt, völlig bedeutungslos zu sein. Sein aufschneiderischer Versuch, | |
die Armee auf die Straße zu befehlen, ging nach hinten los: Die | |
afroamerikanische Wählerschaft hat er schon lange verloren, so wie die | |
Stimmen von Frauen und die WählerInnen aus dem Mitte-rechts-Lager. | |
Seine übrig gebliebenen Verbündeten im Senat merken jetzt, dass sie ihre | |
Loyalität zu [2][Trump] daheim teuer zu stehen kommt. Ob er im November | |
gewinnt oder verliert, sein Platz in der Geschichte des Landes als ein Mann | |
ohne Inhalt, eine einzige große leere Klammer, ist gesichert. Im Herbst | |
wird er die Wahlbühne nutzen, um ein paar hässliche Dinge zu sagen oder zu | |
tun, und es kann sein, dass er die ein oder andere desaströse politische | |
Entscheidung noch wird durchsetzen können. Aber die wichtigen | |
Angelegenheiten des Landes werden anderswo verhandelt. | |
Es wird kein leichter Weg, aber langfristig gesehen haben die „Black Lives | |
Matter“-Kundgebungen das nächste notwendige Kapitel in der amerikanischen | |
Auseinandersetzung mit sich selbst eröffnet. Es geht um die Fortführung der | |
drängenden Bürgerrechtsdebatte der 1950er und 1960er Jahre, angestoßen von | |
Martin Luther King und seinen KommilitonInnen im tiefsten Süden. Dass es | |
heute so viele Tote auf den Straßen gibt, und wohl noch mehr geben wird, | |
ist schmerzhaft und ein viel zu hoher Preis dafür, dass aus einer Debatte | |
konkrete politische Maßnahmen werden können. Doch in der Realität | |
funktioniert amerikanische Politik genau so: in der Hoffnung, dass aus dem | |
Opfer von vielen etwas Besseres erwächst. | |
Sanderlin, der frisch verwundete Gemeindemitarbeiter und Polizeiausbilder | |
aus San José, scheint zu begreifen, wie wahnsinnig viel Arbeit noch zu tun | |
ist. Er gibt nicht auf, doch das Geschehen hat seine Spuren hinterlassen. | |
Seine mühsame Rekonvaleszenz steht dafür, wie schwierig es werden wird, die | |
gewonnene [3][Sensibiliät für Unrecht] in amerikanische Politik zu | |
übersetzen. Auf Sanderlin zu schießen war für den beteiligten Polizisten | |
einfach, er musste ja nur den Abzug betätigen. Es ist Sanderlin, der jetzt | |
die harte Arbeit hat: Er muss versuchen, einen sinnlosen Gewaltakt in eine | |
andere politische Währung umzumünzen. | |
Aus dem Englischen: Nina Apin | |
14 Jun 2020 | |
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## AUTOREN | |
Richard Guy Martin | |
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