# taz.de -- Neu denken nach Corona: Smartphones, Viren und Irre | |
> Kehren wir zurück zu den Geschäftsmodellen, die in der alten Welt zu | |
> funktionieren schienen – oder gehen wir europäisch vorwärts? | |
Bild: Wollen wir weiter so machen? | |
Auf dem Balkon eines Kreativquartiers in Altona stand in dieser Woche | |
Arbeitsminister Hubertus Heil und rauchte schnell noch eine Zigarette, | |
bevor er in einer Talkshow Arbeitslosenprognosen geben sollte. Mehr als 6 | |
Millionen Deutsche sind in Kurzarbeit. Der Frage, wie viele davon im Herbst | |
arbeitslos sein würden, wich Heil so verbindlich aus wie anderen Fragen. | |
Der Ökonom neben ihm sagte: „Wir sind in der tiefsten Wirtschaftskrise“, | |
und ich merkte, wie meine Gedanken abschweiften. | |
Die ersten Coronawochen hatten durch die Entdeckung der eigenen | |
Sterblichkeit eine existentielle Aufladung, die emanzipatorischen | |
Gerechtigkeitsbewegungen sind in der liberalen Gesellschaft kulturell und | |
emotional tief verankert. Aber Wirtschaft? Ich würde unterstellen, dass | |
Teile der neuen Mittelschicht, so wie ich auch, lange ein unaufgeklärtes | |
Verhältnis zu „Wirtschaft“ pflegten. Wirtschaft waren die Bösen. Man selb… | |
hatte andere Prioritäten. | |
Diese „Haltung“ geht jetzt nicht mehr. Tatsächlich bereiten sich | |
Unions-Politiker bereits auf einen Herbst vor, in dem das wirkliche | |
Spaltungspotenzial zwischen denen liegen könnte, für die alles weiter | |
seinen Gang geht, und denen, die abstürzen und die nächste Protestbewegung | |
formieren. | |
Da kann man nicht mit Antikapitalismusfolklore oder Schrumpfungstheorien | |
kommen. Aber worüber man jetzt offensiv streiten muss: Kehren wir zurück zu | |
den Geschäftsmodellen, die in der alten Welt zu funktionieren schienen, | |
wenn man die Klimakrise ignoriert – oder gehen wir europäisch vorwärts und | |
mit neuen Geschäftsmodellen, auf postfossiler Produktionsgrundlage? | |
## Die Wucht der Millennials | |
Die Verhinderung von Arbeitslosigkeit ist seit 70 Jahren die Grundlage der | |
fossilen Geschäftsbeziehung zwischen bundesrepublikanischer Gesellschaft | |
und Politik. Die Verhinderung der Klimakrise ist es nie gewesen und rückte | |
erst durch Fridays for Future in den Bereich des Möglichen. Aber nicht | |
wegen der Protestfolklore. | |
Die Lebensspanne der Millennials reicht bis ins 22. Jahrhundert. Das hat | |
eine Wucht, durch die mehr Leuten bewusst wird, dass die sozialökologische | |
Transformation die große und postideologische Gerechtigkeitsgeschichte sein | |
kann, die verschiedene Interessen zusammenbringt. Das geht nicht mit | |
rauchenden Schloten, aber auch nicht mit Schnitzelverzicht oder | |
Fahrradfahren, sondern hauptsächlich mit postfossiler Wirtschaft. | |
Mag sein, dass Politik grundsätzlich überschätzt wird, weil die großen | |
Veränderungen nicht durch Reformregierungen kamen, sondern durch | |
Dampfmaschinen, Smartphones, Viren und Irre. | |
## Mehrheitsgefühl ist wieder weg | |
Aber auch einen [1][„Epochenbruch“ (Harald Welzer)] kann man | |
ordnungspolitisch so oder anders moderieren. Jetzt braucht es den Entwurf | |
einer künftigen Bundesregierung, die einen politischen und kulturellen | |
Rahmen schafft, der Sicherheit, Vorsorge und Wohlstand sozialökologisch | |
durchdekliniert, die Worte „Wirtschaft“ und „progressiv“ klammert und so | |
eine neue Verbindung zwischen den auseinanderdriftenden Teilen der | |
Gesellschaft herstellt. | |
Es geistert ja die Vorstellung herum, die ersten Coronawochen hätten | |
sichtbar gemacht, dass der Staat doch zentralistisch steuern könne. Aber es | |
war anders. Kanzlerin Merkel hat nur das, was in der Gesellschaft | |
mehrheitsfähig gefühlt wurde, in Worte und Politik gebracht. Dieses | |
Mehrheitsgefühl ist jetzt wieder weg. | |
Es wird unendlich schwierig, so ein starkes Gefühl für innovative | |
Wirtschaft zu etablieren, kulturell zu rahmen und durchzusetzen, dass | |
temporäre Rückschläge eines Pfadwechsels den Verwerfungen des „Weiter so“ | |
vorzuziehen sind. Aber darum geht es jetzt. Nicht zuletzt für diejenigen, | |
die das politisch anführen wollen. Man nennt das Leadership. | |
14 Jun 2020 | |
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## AUTOREN | |
Peter Unfried | |
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