# taz.de -- Tabubruch in Istanbul: Erdoğans Gebet in der Hagia Sophia | |
> Türkeis Präsident inszeniert sich selbst: mit Koran auf dem neutralen | |
> Museumsboden der Hagia Sofia. Die Angst vor ihrer Rückumwandlung zur | |
> Moschee wächst. | |
Bild: Bühne für herausragende Inszenierungen: Hagia Sofia | |
ISTANBUL taz | Am Freitagabend um 21.30 Uhr begann, was der türkische | |
Präsident Erdoğan ein Gebet und die griechische Regierung eine Provokation | |
nannte. Im großen Rund [1][der Hagia Sophia, dem meistbesuchten Baudenkmal | |
Istanbuls,] kniete ein islamischer Vorbeter und rezitierte über viele | |
Lautsprecher nach draußen verstärkt eine Sure aus dem Koran. Die sogenannte | |
Sure der Eroberung. Aus Erdoğans Sicht eine passende Einstimmung seiner vor | |
dem Museum wartenden Anhänger, denn der 29. Mai ist der Jahrestag der | |
Eroberung Konstantinopels durch die Osmanen 1453, nunmehr der 567. | |
Jahrestag. | |
Neben dem Vorbeter ist nur ein weiterer Mann im Kuppelsaal der einst | |
größten christlichen Kirche anwesend, Tourismus-und Kulturminister Mehmet | |
Ersoy, der nominelle Hausherr des Museums. Doch die beiden sind nur | |
Staffage, denn auf einer großen Leinwand, die ihnen gegenübersteht, | |
erscheint niemand anderes als Präsident Recep Tayyip Erdoğan und übernimmt | |
nach einer förmlichen Einladung durch Ersoy das weitere Gebet und die | |
anschließende Predigt. | |
Jede Fernsehanstalt in der Türkei ist zugeschaltet, als Erdoğan vom Ruhm | |
der Vorfahren und der großartigen Gegenwart und Zukunft unter seinem Regime | |
spricht. Vor der Hagia Sophia ist eine weitere gigantische Leinwand | |
aufgebaut, die der Stadtmauer nachempfunden ist und auf der sich nun per | |
Video die glorreiche Eroberung der Stadt durch Sultan Mehmet II. den | |
entfaltet. Die Show beeindruckt – ebenso wie die Hagia Sophia, aus der | |
heraus Erdoğan spricht. | |
Das abendliche Gebet in der Hagia Sophia ist der Höhepunkt eines Tages, der | |
am Vormittag damit begann, dass sich Hunderttausende Gläubige in allen | |
Teilen des Landes das erste Mal nach zweieinhalb Monaten wieder zum | |
Freitagsgebet in den Moscheen versammelten. In Istanbul vermischt sich so | |
der Jahrestag der Eroberung mit der Freude über die Aufhebung [2][der | |
langen Corona-Beschränkungen] zu einem einzigen Triumph der konservativen | |
Anhänger des Präsidenten, den Erdoğan durch die Inszenierung in der Hagia | |
Sophia gekonnt anheizt. | |
## Tabu- und Synthesenbruch | |
Denn das Gebet in der Hagia Sophia ist ein gezielter Tabubruch. Fast | |
eintausend Jahre lang war die Kirche das Wahrzeichen von Byzanz; danach | |
machten die Osmanen aus der Kirche eine Moschee, die wiederum zum | |
Wahrzeichen des Imperiums der Sultane wurde. Erst nach der Gründung der | |
türkischen Republik und der Trennung von Religion und Staat fasste der | |
damalige Präsident Mustafa Kemal Atatürk den Entschluss, aus der vormaligen | |
Kirche der „Göttlichen Weisheit“ und der ehemaligen Sultans-Moschee ein | |
Museum zu machen. Ein Haus, das eine gelungene kulturelle Synthese | |
darstellt und für jede Frau und jeden Mann zugänglich ist. Längst ist die | |
Hagia Sophia das meistbesuchte Museums Istanbuls. | |
Doch den islamischen Fundamentalisten ist das Museum ein Dorn im Auge. Seit | |
Jahrzehnten drängen sie darauf, die Hagia wieder in eine Moschee | |
umzuwidmen. Und immer wenn Erdoğan es braucht, meistens vor Wahlen oder | |
wenn er besonders schlecht dasteht, wie jetzt in der Wirtschaftskrise, gibt | |
er dem Affen Zucker. Möglichst unkonkret redet er dann davon, dass die | |
Hagia Sophia wieder zum Haus Allahs werden könnte, oder er ordnet wie | |
gestern ein Gebet im Museum an. Das macht den Fundamentalisten Hoffnung und | |
sorgt zuverlässig für empörte Reaktionen in Griechenland. | |
Denn wie die islamischen Fundis von ihrer Moschee, träumen die christlichen | |
Fundis in Griechenland von ihrer Kirche im einstigen Konstantinopel, als | |
Griechenland mit Byzanz im Zenit der Macht stand. Prompt erklärte gestern | |
der griechische Vize-Verteidigungsminister Alkiviadis Stefanis zu Erdoğans | |
Auftritt in der Hagia Sophia: „Natürlich ärgert uns das. Es berührt unsere | |
religiösen Überzeugungen und unsere religiösen Gefühle“. Offiziell sagte | |
die griechische Regierung, der Status der Hagia Sophia als Museum dürfe | |
nicht verändert werden. Wird er vermutlich auch nicht, selbst wenn die | |
Hagia Sophia wohl noch häufiger als politischer Spielball missbraucht | |
werden wird. | |
30 May 2020 | |
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## AUTOREN | |
Jürgen Gottschlich | |
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