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# taz.de -- Haft für Demonstrierende: Die unsichtbaren Gezi-Verfahren
> Sieben Jahre nach den Gezi-Protesten mussten viele Menschen einen hohen
> Preis zahlen. Fernab vom Rampenlicht stehen sie für demokratische
> Protestkultur ein.
Bild: Die Proteste im 2013 hatten sich ursprünglich gegen die Abholzung der B�…
Emre Kaptan ist einer von Millionen Menschen, die sich vor genau sieben
Jahren der Protestbewegung um den Gezi-Park anschlossen. Der heute
35-Jährige lebte damals in Izmir und sagt von sich, er habe bei den
dortigen Protesten “an der vordersten Front“ gestanden. Am 22. Tag des
Widerstands durchsuchte die Polizei seine Wohnung und nahm ihn fest. Nach
vier Tagen und Nächten in Polizeihaft sei er in einen Kellerraum des
Gerichtsgebäudes in Bayraklı gesperrt worden, wo es “nach Kanalisation
gestunken“ habe. Schließlich habe er sich vor Gericht wiedergefunden. Auf
eine Leinwand habe man die Namen von zwölf verbotenen Organisationen
projiziert. “Der Richter zeigte uns die Liste und forderte uns auf, je eine
davon zu wählen“, sagt Kaplan.
“Es war eine groteske Szene. Wir mussten uns eine Organisation aussuchen,
als wären wir beim Gemüsehändler.“ Dann wurde er beschuldigt, die
öffentliche Ordnung gestört zu haben – ohne jedoch der Mitgliedschaft in
einer bewaffneten Terrororganisaton bezichtigt zu werden. Kaptan wehrte
sich gegen die Vorwürfe und wurde infolge gemeinsam mit 56 anderen Menschen
in Untersuchungshaft genommen. Er blieb neun Monate inhaftiert und bekam
viele unterstützende Briefe, über die er sich immer noch freut. “Völlig
verdutzt standen wir eines Tages wieder auf der Straße“, erinnert er sich.
“Wir hatten keine Ahnung, warum. Warum wir in Haft waren, warum wir
plötzlich freikamen. Es war alles ziemlich bescheuert.“ Damals wusste er
nur, dass das Verfahren gegen ihn nicht etwa eingestellt worden war.
Sieben Jahre sind seither vergangen. Die Proteste im Sommer 2013 hatten
sich ursprünglich gegen die Abholzung der Bäume im zentralen Gezi-Park
gerichtet und waren innerhalb kürzester Zeit in eine riesige
Protestbewegung gegen die Regierung umgeschlagen. Unerwartet viele,
größtenteils junge Leute beteiligten sich. Neun Menschen starben in den
drei Wochen, die die Polizei brauchte, um die Proteste mit brutaler Gewalt
zu ersticken – einer davon ein Polizeibeamter. Verletzt wurden
schätzungsweise rund 10.000 Menschen.
Es hat zahllose Strafverfahren gegeben, das gleichnamige “Gezi-Verfahren“
ist nur das bekannteste davon. Der Unternehmer und Mäzen Osman Kavala sitzt
seit 940 Tagen in Untersuchungshaft, die Staatsanwaltschaft wollte ihn und
15 weitere Angeklagte lebenslang hinter Gittern sehen. Die Anklageschrift
bezeichnete die Gezi-Proteste in einer etwas schwer übersetzbaren
Formulierung als “Zusammenrottung zum Putsch“, doch neun der Angeklagten
wurden vom Vorwurf, die Proteste finanziert und orchestriert zu haben, im
Februar 2020 freigesprochen. Gegen die sieben im Ausland lebenden
Mitangeklagten geht die Staatsanwaltschaft jetzt in einem eigenen Verfahren
vor. Direkt nach dem Freispruch fand sich für Kavalas Inhaftierung eine
neue Begründung. Dennoch bestärkte das Urteil viele Oppositionelle in ihrer
Ansicht, dass niemand für die Teilnahme an demokratischen Protesten
verurteilt werden darf.
Weniger Aufmerksamkeit genießen die kleineren Strafverfahren, die ohne
medienwirksame Gesichter und internationale Kampagnen ablaufen. Viele
gewöhnliche Menschen sitzen im Gefängnis, weil sie an den Protesten
teilgenommen haben.
## Bitteres Exil
Emre Kaptan findet zwar eigentlich auch, “dass niemand für die Teilnahme an
demokratischen Protesten verurteilt werden darf“. Doch an seiner Situation
ändert das wenig. “Wir zahlen alle einen hohen Preis“, sagt er über die
vielen Menschen, die in Haft saßen oder immer noch sitzen. Auch für Kaptan
bedeutete die Haftentlassung nicht etwa Freiheit. Denn kurze Zeit später
wurden in dem noch laufenden Verfahren Richter und Staatsanwälte
ausgewechselt und bald darauf verurteilte das neue Personal Kaptan zu fast
acht Jahren Haft. Kaptan floh aus der Türkei, statt seine Haftstrafe
anzutreten.
Er schwamm durch den Grenzfluss Evros nach Griechenland und schlief dort
drei Monate auf der Straße. Manchmal aß er zwei Tage lang an einem einzigen
Weißbrot. Irgendwann begann er, bei Anstreicharbeiten auszuhelfen und Dinge
zu reparieren. Er konnte Fuß fassen in Griechenland. Dennoch nimmt er sein
Exil als Freiheitsberaubung wahr. Und tatsächlich sitzt er in Griechenland
fest. Seine Tochter kam nach seiner Flucht in der Türkei auf die Welt, er
hat sie noch nie gesehen. Sein Vater hatte Krebs und kam den Sohn ein
letztes Mal besuchen. “Er kam nach Griechenland“, sagt Kaplan, “er sah mi…
an und starb drei Stunden später an meiner Seite.“
Währenddessen sitzt der Journalist Sami Tunca seit sechs Jahren in Tekirdağ
in Haft, weil er an insgesamt 16 Protestaktionen der Gezi-Bewegung
teilgenommen hat. Die Zeitung Yeni Evrede Mücadele Birliği (dt. etwa
“Kampfbund“), für die er arbeitet, erscheint zwar regulär auf dem Markt,
doch vor Gericht wurde sie als verbotene Publikation behandelt. Andere
Beweismittel gegen Tunca gab es nicht – nur die Tatsache, dass er bei den
Protesten dabei war und für besagte Zeitung schrieb. Verurteilt wurde er
für “Mitgliedschaft in einer Terrororganisation und Terrorpropaganda“.
Seiner Anwältin Seher Dursun zufolge wurde Tunca vorgeworfen,
Molotov-Cocktails geworfen zu haben. Die Staatsanwaltschaft legte
Videoaufnahmen vor, auf denen Tunca am 1. Juni 2013 in Vermummung zu sehen
sein soll. Ein Sachverständigengutachten konnte ihn auf den Aufnahmen nicht
identifizieren, zumal die Staatsanwaltschaft tatsächlich noch andere Videos
vom gleichen Protest vorgelegt hat, auf denen Tunca eindeutig zu erkennen
ist, unvermummt und friedlich. Trotzdem bekam er 2016 eine Haftstrafe von
zunächst 49 Jahren. Ein paar Jahre wurden ihm im Revisionsverfahren dann
erlassen.
## Schlechte Witze und echte Liebe
Im Mai 2016 schrieb Tunca an die Medienplattform Bianet: “Im Wesentlichen
ging es darum, dass unsere Zeitung Kampfbund mit Fahnen und Bannern im
Gezi-Park vertreten war.“ Das wurde den Aktivist*innen als Aufstachelung
der Bevölkerung ausgelegt. “Als Herausgeber der Kampfbund wurde ich mit 50
Jahren Gefängnis bestraft. Ein schlechter Witz.“
Anwältin Seher Dursun beklagt, dass die meisten Verfahren gegen
Arbeiter*innen und Studierende geführt wurden und weder bei der türkischen
Opposition noch im europäischen Ausland besondere Beachtung fanden. Einige
Gezi-Verfahren sind noch anhängig. Von Freisprüchen für alle Angeklagten
könne nicht die Rede sein, so Dursun.
Wenn Emre Kaptan heute sieht, wie die griechische Polizei gegen
Demonstrierende vorgeht, ist er im Kopf sofort bei Gezi. Es berührt ihn,
dass der Jahrestag des Aufstandes in Griechenland jedes Jahr mit
Erinnerungsveranstaltungen begangen wird. “Gezi war für mich Liebe und
Solidarität. Ich bin froh, dabei gewesen zu sein“, sagt Kaptan. “Nie war
ich Teil einer größeren Gemeinschaft. Und wenn es noch einmal passiert,
werde ich wieder dabei sein. Das weiß ich.“
Aus dem Türkischen von Oliver Kontny
29 May 2020
## AUTOREN
Elif Yalaz
## TAGS
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Schwerpunkt Türkei
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