# taz.de -- Jazzfestival Moers trotz Corona: Bitte nicht mit Applaus schießen! | |
> Das Jazzfestival in Moers fand über Pfingsten statt, unter Covid-19 | |
> geschuldeten Bedingungen. Trotz Absagen kam ein überzeugendes Programm | |
> zustande. | |
Bild: Non-Art_Idiot Aktion in Moers | |
Momentan können selbst scheinbar unbedeutende Meldungen maximale Wirkung | |
entfalten: [1][„In Moers fand über Pfingsten ein Festival statt“], wäre im | |
Normalfall Frühsommeralltag. Durch die Coronapandemie wurde das Moers | |
Festival, das 2020 zum 49. Mal angesetzt war, unter besonderen Umständen | |
veranstaltet. Da Konzerte momentan rar gesät sind, die meisten Festivals | |
über die Sommersaison abgesagt wurden, ist Moers einen anderen Weg | |
gegangen. | |
Der künstlerische Leiter Tim Isfort und sein Team haben das Festival über | |
die Bühne gebracht: Dafür gibt es viele Gründe, unter anderem – wohlgemerkt | |
– wirtschaftliche: „Eine komplette Absage wäre teurer geworden, eine Summe | |
im mittleren fünfstelligen Bereich“, hieß es. Fördergelder etwa seien | |
zweckgebunden und nicht umzuwidmen oder gar ins kommende Jahr zu schieben. | |
So waren die vier Tage des Moers Festivals eine Gratwanderung: Mehr als | |
bloß ein Stelldichein der internationalen Improv- und Jazzszene, wofür | |
Moers immer schon Treffpunkt war, sondern Testballon und Leuchtturmprojekt | |
eines ganzen Wirtschaftszweigs: Kann man in Zeiten von Corona etwas | |
realisieren, das sich nicht schwermütig, steril oder lustlos präsentiert, | |
sondern stimmungsvoll auf und vor der Bühne wirkt? | |
## Live gestreamt | |
Das Programm wurde mithilfe des deutsch-französischen Medienpartners, des | |
TV-Senders Arte, durchgezogen. Er hat live gestreamt, circa zehn | |
Programmpunkte pro Tag – inklusive Diskussionen und nächtlichen | |
Jamsessions. | |
Damit sich nicht die Kargheit und Blutleere anderer Live-Streams | |
durchsetzten und zumindest halbwegs ein Gefühl von Puls aufkommen konnte, | |
durfte zwar kein öffentliches Publikum zugegen sein, doch einige | |
FotografInnen, JournalistInnen und andere KünstlerInnen. Alle mit Maske | |
bekleidet und im Abstand von 150 Zentimetern. Das extrovertierte Team des | |
Festivals hatte sich darüber hinaus noch weitere Gimmicks ausgedacht, um | |
spielerisch auf die ungewohnte Atmosphäre zu reagieren. | |
Die Tribüne in der Eventhalle, auf der sonst Musikinteressierte neben | |
Moerser BürgerInnen Platz nehmen, blieb diesmal leer. Der Parkplatz vor der | |
Halle, der sich normalerweise während der vier Tage zum Markt entwickelt | |
und Buden dicht an dicht bietet, blieb ebenso leer. Auch musste das Line-up | |
Absagen stattlichen Ausmaßes wegstecken. Die Liste der Absagen klingt wie | |
ein Who’s who der Szene. Der New Yorker Saxofonist John Zorn blieb etwa zu | |
Hause, weil er gegen Streaming ist. Andere KünstlerInnen mussten aus | |
diversen Gründen (Einreisebeschränkung, Risikogruppe) fernbleiben. | |
## Bezaubernder zeitgenössischer Jazz | |
Trotzdem bot das Programm einige Höhepunkte: Die junge, noch unbekannte | |
Kölner Combo Bört spielte am Freitagabend bezaubernden zeitgenössischen | |
Jazz. Neben solchen Entdeckungen gab es auch Sureshots: Die Weilheimer Band | |
The Notwist mit ihrem audiovisuellen Soundtrack-Projekt Messier Objects; | |
d[2][er Kanadier Chilly Gonzales saß allein am Piano] und machte, was er am | |
besten kann: performen. | |
Besonders beeindruckend am Sonntagmittag: Patricia Martin, Kai Schumacher, | |
Benedikt ter Braak und Mirela Zhulali, die die Komposition „Evil N****“ des | |
afroamerikanischen Komponisten Julius Eastman spielten. Bekleidet mit | |
schwarzen Hoodies, Regenbogenmundschutz und dem Hashtag „I can’t breathe“ | |
auf dem Rücken. Eingedenk der Unruhen in den USA ein mächtiges Zeugnis der | |
politischen Kraft von Musik. | |
In den oftmals bemüht wirkenden Aufnahmen des Streams verpuffte diese | |
Energie dennoch. Insgesamt lässt sich leider feststellen: Auch frei von | |
jeglichem Purismus und Aura-Esoterik ist die neutrale Objektivität der | |
Kamera dem Konzerterlebnis alles andere als zuträglich. Sie bietet immer | |
dann Distanz an, wenn Immersion gefragt wäre; je intensiver das Stück oder | |
die Passage, je mitreißender das Spiel solcher Bands wie The Notwist, desto | |
entfremdeter der Zuschauer am heimischen Empfangsgerät. | |
Dieses reziproke Verhältnis kann selbst ein TV-Sender wie Arte, der | |
jahrelange Erfahrung mit der Aufzeichnung von Konzerten per | |
Kameraschwenkkran hat, nicht auflösen. | |
## Fehlende Immersion | |
Das Festival machte es einem zusätzlich schwer. In dem Bemühen, der | |
fehlenden Immersion offensiv entgegenzusteuern, ließ man einen Schauspieler | |
des Stadttheaters als „Miss Unimoers“ über die leeren Ränge der Eventhalle | |
geistern, er schnibbelte Champignons vor einem Greenscreen oder verstörte | |
einfach schlicht durch permanente Anwesenheit. | |
Gegen die unerträgliche Stille des fehlenden Applauses schoss man scharf: | |
Brachial laute Beifallssalven wurden per Knopfdruck über die Hausanlage | |
abgefeuert. Was als originelle Idee begann, entwickelte sich im Lauf der | |
Festivaltage zum nervenden Störmoment und eskalierte am Samstagnachmittag, | |
als die Performance von Marlies Debacker und ihrem Ensemble massiv vom | |
überambitionierten Schützen an der Applauspistole gestört wurde. | |
Ein dringendes Warnsignal, dass man bei allem Frust über den andauernden | |
Ausnahmezustand nie die Kunst torpedieren sollte. Davon abgesehen gibt es | |
nun Antworten auf so manche Frage der Musikszene: Langsam aber sicher | |
finden VeranstalterInnen, KünstlerInnen und Publikum Wege, um das | |
wirtschaftliche Fortbestehen der Szene zu gewährleisten. Das ist derweil | |
nur bei durchdringender Förderung möglich, wenigstens ist dies nun auch dem | |
Letzten klar geworden. Über die Form darf man aber trotzdem noch mal | |
streiten. | |
4 Jun 2020 | |
## LINKS | |
[1] /Jazz-beim-mrs-Festival/!5601614 | |
[2] /Kanadischer-Pianist-Chilly-Gonzales/!5532816 | |
## AUTOREN | |
Lars Fleischmann | |
## TAGS | |
Schwerpunkt Coronavirus | |
Moers Festival | |
Jazz | |
Jazz | |
Jazz | |
Klangkunst | |
Moers Festival | |
Klavier | |
The Notwist | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Co-Leiterin über Jazztage Leipzig: „Je abgefahrener, desto besser“ | |
Die Jazztage Leipzig stehen vor der Tür. Co-Leiterin Esther Weickel über | |
experimentierende Künstler*innen und die Vorfreude auf ungewöhnliche | |
Konzertorte. | |
Jazz-Festival in Pandemiezeiten: Halle statt Muschel | |
Nach 25 Jahren unter freiem Himmel geht das Hamburger Festival „Jazz Open“ | |
nach drinnen. Wegen Corona kostet es nun erstmals Eintritt. | |
Neues Album von Bérangère Maximin: Feuer im Unterholz | |
Die französische Klangkünstlerin Bérangère Maximin macht auf ihrem neuen | |
Album „Land of Waves“ die Stadt als Tropenwald voller Insekten hörbar. | |
Jazz beim mœrs-Festival: Die Alten erschrecken | |
In Moers fand an Pfingsten das Jazzfestival statt. Sein Konzept ist | |
runderneuert, seine Jazz-Definition erweitert. Der Experimentierwillen ist | |
groß. | |
Kanadischer Pianist Chilly Gonzales: „Die Bartlänge ist egal“ | |
Chilly Gonzales über die Dramaturgie seiner Bühnenshow, Haltungsnoten am | |
Piano und das Arschloch, das er im Spiegel erblickt. | |
Alben von The Notwist und Cummi Flu: Zwei Arten, Musik zu denken | |
Das neue Album von den scheuen Gesellen um The Notwist ist so zurückhaltend | |
wie sie selbst. Und Cummi Flu nutzt in seinem neuen Werk „Z“ wieder das | |
Gummiband. |